"Kolleginnen": Das klingt auf den ersten Blick denkbar harmlos, gerade für eine Krimireihe. Natürlich trügt der Schein, denn auch in diesen Geschichten wird es um Mord und Totschlag gehen. Die personelle Konstellation würde allerdings auch zu einer Komödie passen: Julia Jungklausen (Natalia Belitski), neue Kommissarin beim Berliner LKA, ist die aktuelle Lebensgefährtin des Ex-Mannes ihrer Partnerin, Irene Gaup (Caroline Peters).
Das Ehepaar Gaup hat sich vor einigen Jahren getrennt, allerdings so einvernehmlich, dass es bis heute nicht geschieden ist. Die beiden sehen sich ohnehin regelmäßig, denn Hans Gaup (Götz Schubert) ist Staatsanwalt. Darüber hinaus haben Autorin Annette Simon und Regisseurin Vanessa Jopp das Konfliktpotenzial auf die Spitze getrieben und die beiden Frauen nicht nur äußerlich denkbar gegensätzlich gestaltet: Die blonde Berlinerin Gaup ist herzlich, bodenständig, zweckmäßig gekleidet, benutzt wenig Make-up und fährt Fahrrad. Die brünette Mini-Fahrerin Jungklausen stammt aus Thüringen, ist deutlich jünger, gibt sich betont distanziert, schüttet ständig ein Energiegetränk in sich hinein und legt sichtbar viel Wert auf ein elegantes Erscheinungsbild. Vor allem aber zeichnet sie sich durch einen erschreckenden Mangel an sozialer Kompetenz aus. Wo Gaup behutsam und mit Empathie vorgeht, treibt sie die Menschen in die Enge. Dass die Wohnungen der beiden Frauen ihre Persönlichkeiten widerspiegeln – hier gemütlich, dort kühl und grau – versteht sich fast von selbst.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Warum Buch und Regie diese Rolle derart negativ anlegen, wird nicht recht ersichtlich. Offenbar ging es in erster Linie darum, einen möglichst großen Kontrast zur Kollegin herzustellen; das funktioniert andernorts schließlich auch, allen voran in diversen "Tatort"-Teams. Seltsam ist allerdings, dass es auffallend oft Frauen sind, die bei ihren ersten Begegnungen wie Feuer und Wasser aufeinander reagieren. Die Inkompatibilität hat auch in "Das böse Kind" prompt zur Folge, dass die Ermittlerinnen nicht an einem Strang ziehen. Hinzu kommt, dass der aktuelle Fall an einem Kindheitstrauma Gaups rührt: In einem Waldstück in der Nähe eines Bauernhofs an der Grenze zu Brandenburg wird ein erschlagener junger Mann gefunden. Jungklausen ist umgehend überzeugt, dass die Menschen auf dem Hof in die Tat verwickelt sind: Bei der Gruppe handelt es sich um eine kapitalismuskritische Kommune, die sich selbst versorgt; einen Schamanen gibt es auch.
Der Film beginnt allerdings ganz anders: Im effektvoll gestalteten Spielplatzprolog schaukelt ein Mädchen aus der unscharfen Tiefe des Raumes in den Vordergrund; wenn das Bild scharf wird, zeigt sich eine Träne unterm linken Auge. Dann hüpft das Kind von der Schaukel, schaut neugierig in eine Handtasche, die jemand auf einer Bank zurückgelassen hat, findet einen Polizeiausweis und geht ans klingelnde Telefon: "Hier ist das Handy von Kriminalhauptkommissarin Irene Gaup"; die Besitzerin der Tasche ist wie vom Erdboden verschluckt. In der nun folgenden Rückblende erzählen Simon und Jopp, wie sich die beiden Titelfiguren kennen lernen und warum Gaup durch die Kette des Toten an einen vier Jahre zurückliegenden Fall erinnert wird. Damals hat eine Dreizehnjährige ein Baby zur Welt gebracht. Nach der Geburt sind beide spurlos verschwunden; die Kette mit ihrem besonderen Anhänger ist das erste Lebenszeichen. Der Fall ist Gaup damals sehr nahe gegangen, weil er an eine alte Wunde rührte, und die bricht nun erneut wieder auf.
Mindestens so wichtig wie die Suche nach Emma ist jedoch das Mit- und Gegeneinander der Kommissarinnen. Immerhin vertraut Jungklausen gegen Ende auf die Intuition der Kollegin und solidarisiert sich sogar mit ihr gegen den Staatsanwalt. Davon abgesehen ist jeder ihrer Auftritte die pure Konfrontation, ganz gleich, wer ihr Gegenüber ist. Wenigstens wirkt das Verhalten dank Natalia Belitski weder bemüht noch aufgesetzt, sodass die Rolle in sich schlüssig bleibt. Das macht die Figur zwar nicht sympathischer, aber auf gewisse Weise cool. Ansonsten sind außerhalb der Polizei ausnahmslos alle weiteren Rollen negativ gezeichnet. Während die von Emilie Neumeister als ziemlich gruselige Episodentitelrolle verkörperte Emma angesichts ihres Schicksals zumindest mildernde Umstände geltend machen könnte, muss sich ihre Mutter (Kathrin Wehlisch) von Gaup zu Recht als Monster beschimpfen lassen.
Es mag Zufall sein, aber diese Stigmatisierung der Nebenfiguren war auch ein Merkmal der ohnehin nicht rundum gelungenen bisherigen TV-Krimis von Grimme-Preisträgerin Jopp ("Klimawechsel"), die für ihre ersten Arbeiten ("Vergiss Amerika", 2000; "Engel & Joe", 2001) vielfach ausgezeichnet worden ist und deren Kinokomödien (zuletzt "Gut gegen Nordwind", 2019) stets sehenswert waren. Eine überraschend positive Rolle spielt dagegen der notorisch als Bösewicht besetzte Marek Harloff: Schamane Keanu erweist sich als rettender Engel für die seelisch zutiefst verletzte Kommissarin Gaup. Dank eines Abreißkalenders erfreut der Film ohnehin durch diverse fernöstliche Weisheiten. Die letzte lautet "Hüte dich vor fliehenden Pferden". Als sie das liest, weiß Jungklausen, wo sie Gaup finden wird. Ob die beiden jemals Freundinnen werden, ist dennoch fraglich, aber Kolleginnen bleiben sie vorerst: Ein zweiter Film ist bereits abgedreht.