Jede Geschichte ließe sich auch anders erzählen; meist würde es genügen, den Blickwinkel zu wechseln. In diesem Fall ist es vermutlich nicht zuletzt eine Frage des Geschlechts, welche Perspektive in dem Ehedrama "Wo ist die Liebe hin" nachvollziehbarer erscheint: 16 Jahre lang war Agnes (Ulrike C. Tscharre) nach ihrer Heirat mit Gregor (Roeland Wiesnekker) für die Familie da. Jetzt ist die gemeinsame Tochter Helena 15, die drei Patchwork-Kinder aus den früheren Ehen des Paars sind ohnehin aus dem Haus; also ist Agnes als Teilzeitkraft in ihren erlernten Beruf in die Marketingabteilung einer Supermarktkette zurückgekehrt.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Auf diese Weise lernt sie Heike (Anneke Kim Sarnau) kennen, eine Frau, die vor Energie nur so sprüht und eine Hamburger Tafel organisiert. Heikes Temperament ist derart ansteckend, dass Agnes alsbald ihrem Beispiel folgt und mehr Zeit mit dem Ehrenamt als mit ihrer Familie verbringt. Prompt sieht Helena (Emilie Neumeister) ihren Status als Prinzessin in Gefahr. Gregor trifft das Engagement der Gattin allerdings deutlich härter. Erste Spannungen entwickeln sich zu einer handfesten Krise, und binnen kürzester Zeit beginnt das bislang geradezu vorbildlich harmonische Paar, sich radikal zu entfremden.
Dank eines klug und mit viel Feingefühl konzipierten Drehbuchs ist "Wo ist die Liebe hin" ein Lehrbeispiel dafür, wie fragil das Beziehungsglück ist. Die Krise ist zwar zugespitzt, weil die Autorinnen Katrin Ammon und Martina Borger die Entwicklung verdichtet haben, aber stets plausibel: Gregor, womöglich typisch Mann, hat es sich in seinem Leben behaglich eingerichtet. Er ist freiberuflicher Grafiker, hat sein Büro im Keller und konnte sich bislang darauf verlassen, dass sich Agnes um die allgemeinen Geschäftsbedingungen kümmert, die ein Familienleben mit sich bringt. Während sich Helena, von Emilie Neumeister sehr realitätsnah als verwöhnter Teenager verkörpert, vor allem über scheinbare Petitessen mokiert, sieht Gregor gleich das große Ganze in Gefahr.
Um die Dramatik zu verdeutlichen, mit der Agnes und Gregor auseinanderdriften, gibt es ein kinderloses Paar, das seine Disharmonie regelrecht zu zelebrieren scheint. Gegen Ende wird Conny (Uygar Tamer) Agnes erklären, dass sie und Bernhard (Rainer Bock), Gregors ältester und bester Freund, ihre Meinungsverschiedenheiten stets offen und auf der Stelle ausgetragen hätten. Der Film beginnt mit einem gemeinsamen Treffen des Quartetts: Agnes und Gregor wirken verliebt wie am ersten Tag, Conny und Bernhard geben sich ihren kleinen Scharmützeln hin. Am Schluss sind die Vorzeichen komplett vertauscht: Agnes und Gregor haben sich nicht mehr viel zu sagen. Die Liebe von Conny und Bernhard überdauert dagegen auch einen Schicksalsschlag, der die beiden zusätzlich zusammenschweißt.
Diese Aneinanderreihung von Szenen einer Ehe – der Film besteht zunächst tatsächlich aus einer Sammlung von Momentaufnahmen – klingt nach großer Tristesse, und in der Tat lassen bereits die winterlich freudlosen Bilder zum Auftakt keinen Zweifel daran, dass Alexander Dierbach bei seiner Umsetzung nichts beschönigen wird. Auch dank der Bildgestaltung, bei der die Kamera (Ian Blumers) meist ganz nah an den Figuren bleibt, ist die Inszenierung ein Dokument des Scheiterns.
Das Drehbuch verzichtet allerdings sorgsam auf Schuldzuweisungen, selbst wenn es Gregor mildernde Umstände zubilligt, und das nicht nur, weil er berufliche Probleme hat: Agnes hat es versäumt, ihn an ihrer unerfüllten Sehnsucht nach einer sinnvollen Tätigkeit teilhaben zu lassen, weshalb ihn ihr Emanzipationsbedürfnis wie aus heiterem Himmel überfällt; prompt fühlt er sich ähnlich hilflos wie beim Krebstod seiner ersten Frau. Zunächst kaschiert er seine Irritation mit unangebrachten Bemerkungen ("die Welt retten"), dann schlägt er sich bei den zunehmend heftigen Auseinandersetzungen zwischen Mutter und Tochter auf die Seite Helenas, schließlich zieht er in den Keller.
Und so ist "Wo ist die Liebe hin" auch ein Film, der vielen in die Jahre gekommenen Paaren einen Spiegel vorhält: Er will den Status quo erhalten, sie hat sich weiterentwickelt. Im Grunde kein Problem; wenn sie beizeiten darüber geredet hätten. Alexander Dierbach hat viele gute Krimis gedreht, darunter einige vorzügliche "Helen Dorn"-Episoden. Dass er auch ein guter Drama-Regisseur ist, hat er mit "Weil du mir gehörst" (2020, ARD) bewesen, einem deprimierenden, aber herausragend gut gespielten Film mit Felix Klare als entsorgter Vater und Julia Koschitz als Mutter, die ihr Kind manipuliert.