Günter Hänsel: Herr Schmid, gegenwärtig wird viel über Einsamkeit und Alleinsein gesprochen. Viele Bücher sind dazu in letzter Zeit erschienen. Wie erklären Sie sich das?
Günter Hänsel (*1993) studierte Religions- und Gemeindepädagogik (M.A.) an der Evangelischen Hochschule Berlin. Von 2018 bis 2020 war er Vikar der Kirchengemeinde Berlin-Frohnau. Seit 2021 ist er Pfarrer der Kirchengemeinde Berlin-Schlachtensee. Er lehrt an der Evangelischen Hochschule Berlin zu Spiritualität.
Wilhelm Schmid: Das Thema gab es schon immer für viele Menschen, aber jetzt ist das Scheinwerferlicht darauf gerichtet, Grund ist natürlich die Pandemie-Erfahrung.
Die Corona-Krise hat das Erleben von Einsamkeit offengelegt und sogar verstärkt. Endlich sprechen wir offen darüber. Ist das auch Ihre Wahrnehmung?
Schmid: Ja, natürlich. Ich selbst hatte seit vielen Jahren ein Arbeitsmanuskript dazu in der Schublade. Jetzt muss ich damit nicht mehr kommen, jetzt gibt es genug darüber zu lesen.
Der Philosoph Odo Marquard spricht schon in seinem Aufsatz von 1983 von der "Last und der Lust der Einsamkeit" . Wohnt der Einsamkeit beides inne?
Schmid: Genau so ist es. Die Lust wird allerdings jetzt ein wenig vergessen, weil die Last für viele übermächtig ist.
In der Literatur und in der gegenwärtigen Diskussion werden unterschiedliche Begriffe verwendet: einsam, alleinsein, abgeschieden, isoliert, verloren, frei und ungebunden. Was verstehen Sie unter Einsamkeit und Alleinsein?
Schmid: Wie so oft ist es eine Frage der Definition, und die kann nie endgültig und für alle verbindlich sein. Was mich angeht, will ich die Begriffe nicht unterscheiden, beides kann beides sein, Last und Lust.
Als Pfarrer begegnet mir Einsamkeit: In der Begleitung von Trauernden, beim Besuch von älteren Menschen; aber auch unter jungen Menschen spüre ich Erfahrungen von Einsamkeit. Zum anderen nehme ich eine große Sehnsucht nach Zeiten des Alleinseins wahr, um das eigene Leben zu vertiefen. Viele Menschen suchen Ruhe und Einkehr in Klöstern. Einsamkeit hat also viele Formen?
Schmid: Selbstverständlich. Wichtig ist nur, dass der oder die Einzelne für sich herausfindet, was er oder sie braucht und was ihm oder ihr guttut. Aber auch, wovor er oder sie sich ängstigt. Restlos aus dem Leben zu schaffen ist die ängstigende Einsamkeit nicht, sie gehört zum Menschsein.
"Restlos aus dem Leben zu schaffen ist die ängstigende Einsamkeit nicht, sie gehört zum Menschsein."
Das Bild "Der Mönch am Meer" von Caspar David Friedrich verstehe ich als Veranschaulichung eines Menschen, der sich im Alleinsein mit der ganzen Welt als eins empfindet. Was drückt dieses Bild für Sie aus?
Schmid: Ja, es kann das Einssein sein. Es kann auch die völlige Verlorenheit im Kosmos sein. Caspar David Friedrich legte ja immer großen Wert darauf, dass es keine Eindeutigkeit in seinen Bildern gibt.
Im Wort "Alleinsein" steckt die Bedeutung des All-eins-sein, also eine Weltbeziehung des Verbundenseins mit allem...
Schmid: Ja, und auch das allein sein.
Odo Marquard spricht von einer "Kultur der Einsamkeitsfähigkeit"² . Er nennt drei Momente, die für ihn zur Kultur der Einsamkeitsfähigkeit gehören: Humor, Bildung und Religion. Zur Religion schreibt er: "Zur Kultur der Einsamkeitsfähigkeit gehört – auch und vielleicht unvermeidlicherweise – Religion: Gott ist – für den Religiösen – der, der noch da ist, wenn niemand
mehr da ist."³ Überrascht Sie, dass Odo Marquard die Religion anführt?
Schmid: Wie immer ein bisschen kompliziert ausgedrückt von ihm. Die Frage ist, was Religion ist. Viele denken da sofort an Kirchen. Religion ist aber (so meine ich jedenfalls) einfach ein Rückbezug auf etwas Wesentliches. Was das ist, darüber haben Menschen unterschiedliche Auffassungen, aber alle haben für sich etwas Wesentliches, an dem sie ihr Leben orientieren.
"Religion ist einfach ein Rückbezug auf etwas Wesentliches."
Hermann Hesse versteht Einsamkeit als existenzielle Grunderfahrung: "Leben ist Einsamsein. Kein Mensch kennt den anderen, jeder ist allein." Wie verorten Sie die existenzielle Grunderfahrung von Einsamkeit in Ihren Gedanken?
Schmid: Es gibt einen Moment im Leben, da muss jede und jeder ganz
alleine durch. Ich habe es gerade eben sehr, sehr schmerzlich erlebt. An Heiligabend ist nach langer Krankheit meine Frau gestorben. Die Kinder und ich waren um sie herum, sie war erkennbar todtraurig, gehen zu müssen, und wir konnten es nicht verhindern und nicht ihr abnehmen. So wird es dann auch einmal für uns sein.
"Es gibt einen Moment im Leben, da muss jede und jeder ganz alleine durch."
Sie gehören zu wichtigsten philosophischen Schriftstellern der Gegenwart. Suchen auch Sie Zeiten des Alleinseins auf?
Schmid: Ja, jeden Tag. Ich trinke nicht zuhause Kaffee, sondern gehe allein ins Café, um inspiriert vom Kaffeegenuss zu arbeiten. Auch gehe ich jeden Tag allein zu einem Spaziergang. Das brauche ich, um denken und schreiben zu können.