Es wäre ein grotesker Zufall, wenn Thomas O. Walendy für den entsprechenden Handlungsstrang nicht durch den Klassiker "Einer flog übers Kuckucksnest" (1975) inspiriert worden wäre. Die Nebenebene spielt zwar nicht in der Psychiatrie, aber die Parallelen sind offenkundig: Der Held ist ins Krankenhaus eingeliefert worden und will unbedingt wieder raus, zumal die zuständige Krankenschwester ihm seine diversen Anmaßungen nach allen Regeln der Kunst heimzahlt. Die von Hildegard Schroedter mit vielen vermeintlich wohlmeinenden Gemeinheiten versehene Frau heißt Luise Fleischer; Ähnlichkeiten mit der von Louise Fletcher verkörperten Schwester Mildred Ratched aus "Kuckucksnest" sind nicht zu übersehen. Bredin wiederum, ohnehin ein Schauspieler mit großer Präsenz, hat nicht weniger Vergnügen an seiner stummen Rolle, die jener von "Chief" Bromden entspricht, mit der sich Will Sampson in Miloš Formans formidablem Film unsterblich gemacht hat.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Es gibt noch eine ganze Reihe weiterer Anspielungen in Walendys siebtem Drehbuch für die Reihe. Sie machen zwar den besonderen Reiz von "Sievers und das mörderische Türkis" aus, aber die Krimihandlung ist auch nicht schlecht: Am frühen Morgen kommt Hinnerk Feldmann (Oliver Wnuk) von einem Klassentreffen zurück. An seinem Handgelenk ist ein mit Helium gefüllter Haiballon befestigt, der sich immer wieder vorwitzig ins Bild drängelt. Als ein mit geöffneten Türen mehr oder minder mitten auf der Straße stehendes Cabrio die Aufmerksamkeit des übermüdeten Kommissars weckt, nimmt das Schicksal seinen Lauf. Was nun passiert, spart der Film allerdings aus. Nach einem sanften Übergang kommt Feldmanns WG-Partnerin und unerklärte große Liebe Ina Behrendsen (Julia Brendler) mit einer schrecklichen Vorahnung an den Tatort, aber der Tote ist zum Glück nicht der Kollege, sondern der einem anscheinend vorsätzlich herbeigeführten Herzversagen erlegene Kunstexperte und Kurator Piontek; Feldmann hat die Leiche entdeckt, ist dabei hinterrücks aus dem Verkehr gezogen worden und hat sich irgendwie das Bein gebrochen.
Der Kunsthistoriker, an dessen Zeigefinger sich ein Klecks getrockneter Ölfarbe befindet, war dabei, gemeinsam mit Assistentin Andersson (Patrycia Ziolkowska) eine Ausstellung zeitgenössischer deutscher Künstler fürs New Yorker Museum of Modern Art vorzubereiten. Zum Kandidatenkreis gehört auch der Sylter Maler Bitomsky (Andres Lust), aber offenbar hat es Streit über die Qualität seiner Arbeit gegeben. Der Künstler hat, wie Behrendsen und ihr Chef Karl Sievers (Peter Heinrich Brix) aus erster Hand erfahren, ganz erhebliche Probleme mit seiner Impulskontrolle: Als die beiden den Mann in seinem Atelier aufsuchen, ist er drauf und dran, seine Werke zu zerstören. In der kurzen Zündschnur mag das Geheimnis seiner Kunst liegen, aber sie macht ihn natürlich zum Verdächtigen. Eine undurchsichtige Rolle spielt jedoch auch Galerist Ferdinand Frayn (Gustav Peter Wöhler): Sollte sein Protegé tatsächlich zu den Auserwählten fürs MoMA gehören, wäre er ein gemachter Mann.
Während Sievers und Behrendsen die üblichen Krimifragen stellen, verzweifelt Feldmann zunehmend an seiner Situation, zumal ihm Walendy einen Nebenbuhler ins Reviernest gesetzt hat: Im Rahmen eines Austauschprogramms tummelt sich vier Wochen lang Ottfried Lechner (Felix Everding) aus Wien auf Sylt. Der junge Kollege fährt mit einem flotten Sportwagen vor, bringt eine moderne Kaffeemaschine mit, baggert ganz unverhohlen Behrendsen an und schafft es unter einem Vorwand sogar, bei ihr zu übernachten. Der Kontrahent trägt selbstredend nicht dazu bei, Feldmanns Laune zu verbessern, sorgt aber indirekt für die beiden witzigsten Szenen des Films. Selbst wenn "Sievers und das mörderische Türkis" sonst nichts Sehenswertes zu bieten hätte: Allein die Idee, wie der wegen einer Mandel-OP vorübergehend sprachlose Zimmergenosse des Kommissars die Schwester ablenkt, damit Feldmann an ihren Computer kann, ist wunderbar ausgedacht und umgesetzt, zumal die musikalische Untermalung klingt, als wären die beiden dabei, ein spektakuläres Ding zu drehen. Ansonsten hat Regisseur Berno Kürten seinen vierten Film für die Reihe jedoch recht brav inszeniert.
Die Krimistory ist zwar komplex und mit ihren Erläuterungen über Kunst als Spekulationsobjekt auch lehrreich, aber Spaß macht der Film daher vor allem wegen Wnuk, Bredin und Brix, der seine Dialoge gewohnt knochentrocken vorträgt ("Karl, mit K wie kolerisch"). Die Würze der Geschichte sind die vielen beiläufig eingestreuten Verbeugungen, zumal sie ähnlich funktionieren wie die kleinen Amüsements in Kinderfilmen, die auch Erwachsenen Spaß machen sollen: Sie sind so gut integriert, dass sie kaum auffallen. Deshalb spielt es auch keine Rolle, ob das Passwort von Schwester Luise, "Mutabor", eine Reminiszenz an Wilhelm Hauffs Märchen "Kalif Storch" oder eine Hommage an die Folkpunk-Band gleichen Namens ist, und man muss auch nicht wissen, dass der angebliche amerikanische Top-Profiler Paddy Chayevsky in Wirklichkeit ein erfolgreicher Drehbuchautor ist ("Network"). Die ohnehin vorzügliche Musik (Johannes Brandt, Dominik Giesriegl) erfreut ebenfalls durch solche kleinen Momente: Wann immer Lechner sein Wesen treibt, erklingt in zarter Andeutung das Leitmotiv aus "An der schönen blauen Donau". Derart anspielungsreich sind im ZDF sonst nur die "Wilsberg"-Krimis.