Wenn die Ausländer weg wären

epd-bild/Friedrich Stark
Ein großer Teppich aus deutsch-türkischen Fahnen hing bei der Fußball-EM 2008 am Stadthaus in Dortmund. Das Halbfinalduell beider Teams entschied Deutschland mit 3:2 für sich. Im Endspiel gegen Spanien hielten die meisten Deutschtürken der Elf von Jogi Löw die Daumen.
Wenn die Ausländer weg wären
Deutschland ohne Ausländer: Das ist ein radikales Gedankenspiel zweier Buchautoren. Sie gehen der Frage nach, wie das Land aussähe, wenn Türken, Italiener, Polen und andere Migranten in ihre Herkunftsländer zurückkehrten.
09.05.2012
epd
Jürgen Prause

Ein unglaubliches Szenario: Alle Ausländer verlassen schlagartig Deutschland. Auf den Autobahnen wälzen sich an einem heißen Sommertag endlose Autokolonnen in Richtung Grenze, es kommt zu kilometerlangen Staus. Die Bundesregierung hat - mit einem Jahr Vorlauf - die Ausweisung aller Menschen ohne deutschen Pass beschlossen. Ein Regierungssprecher spricht von der "Sicherung des Wohlstandes für die deutsche Kernbevölkerung". Die Mehrheit der Deutschen hatte zuvor in einem Referendum dafür gestimmt, dass die Ausländer gehen müssen. Auslöser für das Votum ist eine schwere Wirtschaftskrise.

Das Szenario entspringt einem radikalen Gedankenexperiment der Autoren Pitt von Bebenburg und Matthias Thieme. In ihrem Buch "Deutschland ohne Ausländer", das seit Mittwoch im Handel ist, entwerfen die beiden Journalisten die "Fiktion eines ausländerfreien Deutschlands". Sie untersuchen die möglichen Folgen für Wirtschaft und Sozialsysteme, fragen nach den Auswirkungen für Alltagsleben, Kultur und Sport, wenn Türken, Italiener, Polen und andere Zuwanderer nicht mehr da wären. Und sie machen deutlich, welchen Beitrag die Einwanderer tatsächlich für die Gesellschaft leisten.

Eine Antwort auf Sarrazin

Das Buch ist eine Antwort auf rechtsextreme Parolen wie "Ausländer raus", ebenso wie auf die Sarrazin-Debatte und die Fremdenfeindlichkeit in der Mitte der Gesellschaft. Laut Umfragen ist rund die Hälfte der Deutschen der Ansicht, dass zu viele Ausländer in Deutschland leben. Der frühere Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) hatte in seinem 2010 erschienenen Bestseller "Deutschland schafft sich ab" Überfremdungsängste aufgegriffen und die Sorge geäußert, dass "Staat und Gesellschaft im Laufe weniger Generationen von den Migranten übernommen" werden könnten.

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Die massenhafte Ausweisung der Ausländer aus Deutschland hätte das plötzliche Verschwinden von rund sieben Millionen Menschen zur Folge. Vor allem in den Großstädten und Ballungszentren würde der Exodus große Lücken reißen. Frankfurt am Main büßte mehr als ein Viertel seiner Bevölkerung ein. Stuttgart, München und Nürnberg verlören mehr als jeden fünften Einwohner. Stadtviertel, die bisher von Einwanderern geprägt waren, würden veröden, Restaurants und Läden ausländischer Inhaber blieben geschlossen. Flächenstaaten wie Baden-Württemberg, Hessen und Nordrhein-Westfalen würden mehr als zehn Prozent ihrer Bevölkerung verlieren, in Ostdeutschland wäre der Wegzug der Ausländer dagegen weit weniger spürbar.

Die wirtschaftlichen Folgen der Massenausweisung wären immens. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die deutsche Wirtschaft ohne die 3,37 Millionen ausländischen Arbeitskräfte schnell am Boden läge. In Branchen wie der Automobilindustrie, der Gebäudereinigung oder der Gastronomie würde sich ihr Fehlen besonders drastisch auswirken. Auch die meisten Taxifahrer in den Großstädten wären weg, ebenso Gemüsehändler, Schneider, Schuhmacher und andere Existenzgründer.

Notstand in Pflegeheimen

In Pflegeheimen und bei ambulanten Pflegediensten bräche bundesweit der Notstand aus, viele der rund 2,4 Millionen Pflegebedürftigen könnten ohne die ausländischen Pflegekräfte nicht mehr ausreichend versorgt werden. Infolge der schlechten Betreuung müssten viele alte Menschen früher sterben. Auch für Kultur und Sport wäre ein Wegzug der Ausländer ein schwerer Aderlass. Theater und Orchester wären kaum noch arbeitsfähig. Die Fußball-Bundesliga müsste auf Spitzenspieler wie Frank Ribéry, Arjen Robben, Robert Lewandowski oder Raúl verzichten.

ZUM WEITERLESEN
Pitt von Bebenburg/Matthias Thieme: Deutschland ohne Ausländer. Ein Szenario, München 2012. Redline Verlag, 272 Seiten, 19,99 Euro. Einen Auszug aus dem Buch lesen Sie hier.

Nach Berechnungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge würde die Wirtschaftsleistung in Deutschland ohne die Ausländer erheblich sinken. Das Bruttoinlandsprodukt würde jährlich um 150 bis 200 Milliarden Euro schrumpfen. Die öffentlichen Haushalte müssten Steuerausfälle in Milliardenhöhe verkraften, die Staatsverschuldung würde steigen. Gut 74 Millionen Deutsche wären nach dem erzwungenen Weggang der Ausländer unter sich. Ihr Leben würde sich dadurch spürbar verändern. Nach dem Urteil von Experten müssten die Deutschen länger arbeiten und höhere Steuern und Sozialabgaben zahlen. Sie müssten einen niedrigeren Lebensstandard hinnehmen und wieder Arbeiten übernehmen, die bisher von Migranten erledigt wurden.

Viele Familien würden auseinandergerissen

Die Einwanderer würden nicht nur als Arbeitskräfte fehlen. Rund 1,4 Millionen Deutsche sind mit ausländischen Partnern verheiratet - im Falle ihrer Ausweisung würden also viele Familien auseinandergerissen. Viele Deutsche würden indes ihren ausgewiesenen Ehepartnern und Kindern folgen, weil sie in einem Land ohne Ausländer nicht mehr leben wollten.

Das von den Autoren geschilderte Szenario ist hochspekulativ und beklemmend zugleich. Seine Realisierung wäre nur unter gänzlich anderen politischen Machtverhältnissen vorstellbar, im Buch treibt eine rechtspopulistische Regierung die fremdenfeindliche Politik voran. Die internationalen Folgen blieben nicht aus. Neben den massiven wirtschaftlichen Folgen der Ausländer-Ausweisung geriete Deutschland politisch in die Isolation. Im Ausland herrschte Empörung, die EU-Kommission erteilt Deutschland in der fiktiven Darstellung eine scharfe Rüge und verlangt die Wiederherstellung der Freizügigkeit für EU-Bürger.