Das ZDF hat den Handlungskern vom "Doppelten Lottchen" (1949) vierzig Jahre später für eine deutsch-deutsche Komödie mit Götz George in einer Doppelrolle als "Schulz & Schulz" genutzt: Zwei Zwillinge aus der Werbebranche, der eine im Westen aufgewachsen, der andere im Osten, tauschen die Rollen. Nun erzählt das "Zweite" die Geschichte noch mal, diesmal mit zwei jungen Frauen. Rodica Doehnerts Drehbuch orientiert sich zwar stärker an Kästner, folgt ansonsten jedoch dem Prinzip von "Schulz & Schulz".
Der Dreiteiler beginnt mit einem Kindesentzug kurz vor dem Mauerbau: Bei Nacht und Nebel holt ein Vater ein Baby aus seinem Bett und fährt mit dem Kind davon. Seine Beweggründe werden später nachgereicht: Physikstudent Roland (West) hat sich in Physikstudentin Rosa (Ost) verliebt. Sie bringt Zwillinge zu Welt, will die DDR aber nicht verlassen, weshalb Roland kurzerhand ein Baby raubt, damit wenigstens eins der Mädchen in Freiheit aufwächst.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
28 Jahre später ist Christine (Svenja Jung), alleinerziehende Mutter einer neunjährigen Tochter, Tänzerin im Friedrichstadt-Palast, Ende der Achtziger eins der größten Revuetheater Europas. Sie drauf und dran, zum Star des Ensembles zu werden, als ihr Leben aus den Fugen gerät, denn plötzlich taucht eine Frau auf, die ihr zum Verwechseln ähnlich sieht: Marlene ist als Repräsentantin des Bamberger Familienunternehmens Wenninger in Ost-Berlin und in den Friedrichstadt-Palast eingeladen worden. Die beiden hatten von ihrer gegenseitigen Existenz keine Ahnung: Christine ist in dem Glauben aufgewachsen, ihr Vater sei bei einem Verkehrsunfall gestorben; Marlene hatte nie einen Grund, daran zu zweifeln, dass ihre Mutter sie nicht zur Welt gebracht hat. Und natürlich tauschen die beiden Frauen die Rollen.
Alleinstellungsmerkmal der sechsteiligen Serie sind die mit großen Aufwand inszenierten und auch dank der schmissigen Musik (Martin Lingnau) mitreißenden Revueszenen, die für viel Augenfutter sorgen (Bildgestaltung: Hannes Hubach). Die Liste der Mitwirkenden ist wie bei allen Prestigeproduktionen von eindrucksvoller Prominenz: Heino Ferch verkörpert den Vater genauso verkniffen wie seine Rolle in der "Ku’damm"-Trilogie (ebenfalls ZDF), Anja Kling spielt Rosa, die leibliche Mutter, Inka Friedrich die Frau, die Marlene wie ihr eigenes Kind aufgezogen hat. In weiteren wichtigen Rollen wirken unter anderem Jeanette Hain (als Choreographin) sowie Friedrich von Thun als reaktionärer Großvater und Hermann Beyer als sein kommunistisches Pendant mit.
Viele Nebenfiguren sind nicht minder markant besetzt, was zur Folge hat, das kleine Momente in den jeweiligen Szenen sehr groß werden; viel Vergnügen bereitet zum Beispiel Matthias Matschke als gute Seele in der Theatergarderobe. Selbstredend gibt es dank August Wittgenstein als Christines Sandkastenfreund auch eine romantische Ebene. Daniel Donskoy überzeugt als Star-Choreograf aus England, und die Südtirolerin Katia Fellin ist in den Rückblenden als junge Rosa sehr präsent.
Ähnlich faszinierend wie die Aufführungen sind die Proben und die die Blicke hinter die Kulissen; in dieser Hinsicht kann sich "Der Palast" an Richard Attenboroughs Klassiker "A Chorus Line" messen lassen. Die Aufnahmen sind tatsächlich im echten Palast entstanden. Dieser Teil der Handlung ist ein reizvoller Gegenentwurf zu den Geschichten, die Fernsehen und Kino für gewöhnlich über die DDR erzählen. Die Stasi erhebt ihr hässliches Haupt erst gegen Ende der Serie, als Chris und Marlene ihr Spiel zu weit treiben. Die Handlung ist auch dank diverser Nebenstränge von eindrucksvoller Komplexität, aber trotzdem steht und fällt ein derart ambitioniertes Projekt mit der Hauptdarstellerin.
Svenja Jung hat gerade im ZDF schon einige Male gezeigt, was sie kann, etwa in dem Krimi "Ostfriesenkiller" (2017) als geistig behinderte junge Frau, die in die Mordserie involviert ist, oder als moderne Heldin in dem Märchenfilm "Der süße Brei" (2019). Mit ihrer Doppelrolle in "Der Palast" spielt und tanzt sie sich in die erste Reihe, weil sie auf beiden Ebenen glänzt, als Tänzerin wie als Schauspielerin. Natürlich tragen Kostüm- und Maskenbild ihren Teil dazu bei, dass sich Marlene und Christine schon auf den ersten Blick verschieden sind, aber Jung sorgt für weitere nuancierte Unterschiede. Dass die begeisterte Tänzerin mehrere Monate trainiert hat, um auch beim stellenweise durchaus erotischen Revuetanz in jeder Hinsicht eine gute Figur zu machen, ist das eine; aber gerade in den sehr berührenden emotionalen Momenten, die für die Identifikation mit den beiden Frauen mindestens so wichtig sind wie ihr Schicksal, weckt sie mit kleinen Mitteln große Anteilnahme.
Selbstredend gebühren die Meriten auch und gerade Uli Edel ("Der Baader Meinhof Komplex", 2008), der spätestens seit der mehrteiligen Jahrhundert-Saga "Das Adlon" (ZDF 2013, ebenfalls nach einem Drehbuch von Doehnert) als Regisseur für Event-Fernsehen gefragt ist; den entsprechenden Ruf hat er unter anderem mit dem Auswanderer-Epos "Der Club der singenden Metzger" (2019) untermauert. Die gestern ausgestrahlte Episode steht in der ZDF-Mediathek, Teil drei folgt morgen.