Bei den Versicherungen bildet die Gewissheit, dass solche Vorfälle eher zu den Ausnahmen gehören, die Basis des Geschäftsmodells; bei der Polizei sind sie Alltag. Die einen befassen sich also mit Wahrscheinlichkeiten, während bei den anderen das Unwahrscheinliche die Regel ist; zumindest im Fernsehen. Das ist die eine Ebene dieses vorzüglichen "Tatort"-Krimis aus Stuttgart. Die andere ist ungleich heikler, denn es geht um die Frage, ob die Versicherungsmathematikerin Kim Tramell (Ursina Lardi) nach einer Weihnachtsfeier vergewaltigt worden ist; oder ob sie sich auf einvernehmlichen Sex mit ihrem Chef, Oliver Jansen (Oliver Wnuk), eingelassen hat, um sich eine Beförderung zu erschlafen, und sich nun als Opfer darstellt. Der Konkurrent um den Posten, Idris Demir (Ulas Kilic), hat das Paar beim Sex gefilmt und ist anschließend ermordet worden. Als Verdächtige kommen nur Jansen und Tramell in frage.
Natürlich ist das Thema eine Gratwanderung. Selbst wenn sich die Kommissare alle Mühe geben, nicht in patriarchale Denkmuster zu verfallen: Vier Jahre nach der durch die Vergewaltigungsvorwürfe gegen den Filmproduzenten Harvey Weinstein ausgelösten "MeToo"-Kampagne erscheint es schon fast als Affront, eine Frau zu verdächtigen, sie habe sich einen derartigen Vorwurf bloß ausgedacht. Geschickt lässt Regisseur Rudi Gaul, der das Drehbuch gemeinsam mit Katharina Adler geschrieben hat, bis zum Schluss offen, welchen Verlauf die Ereignisse tatsächlich genommen haben. Zunächst entwickeln sich die Dinge in der Tat einvernehmlich. Ein Flirt mündet in einen letzten Drink im Büro des Chefs, und es bleibt auch nicht beim "Gute-Nacht-Kuss". Dann endet der Prolog; ab diesem Moment sind die Stuttgarter Kommissare Lannert und Bootz (Richy Müller, Felix Klare) auf Demirs Video angewiesen. Weil er durch die Glasscheibe gefilmt hat und daher kein Ton zu hören ist, können die Ermittler nur die Bilder beurteilen, und die lassen sich in beiderlei Hinsicht interpretieren; sogar Tramells Behauptung, Jansen habe sie mit einem Brieföffner zum Beischlaf gezwungen, lässt sich nicht widerlegen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Schon der clevere Titel "Videobeweis", eine Analogie zum Sport, lässt erahnen, dass dem Drehbuchduo ein besonderer "Tatort" vorschwebte. Zusätzlichen Reiz bekommt die Geschichte, weil Lannert große Sympathie für Tramell empfindet: Sie fährt wie er einen Oldtimer, repariert seinen muckenden Targa mit wenigen Handgriffen und scheint auch sonst eine sehr patente Frau zu sein. Bootz ist entsprechend empört, als er erfährt, dass der unter einem Hexenschuss leidende Kollege beinahe noch eine wohltuende Handgreiflichkeit der Mordverdächtigen zugelassen hätte, als sie ihm eine schmerzlindernde Salbe auftragen wollte.
Es wird kein Zufall sein, dass die weibliche Hauptfigur eine berühmte Namensvetterin hat: Catherine Tramell, die von Sharon Stone als verführerische Sphinx verkörperte Antagonistin in "Basic Instinct" (1992), war selbstredend nicht die erste Femme fatale der Filmgeschichte, ist bis heute aber eine der bekanntesten Figuren dieser Art. Natürlich stößt ein Vergleich der beiden Rollen an gewisse Grenzen, aber das Spiel, das Kim Tramell mit Lannert treibt, weist durchaus Parallelen auf. Der zweite Reiz des Krimis liegt in seiner Umsetzung: Obwohl "Videobeweis" überwiegend aus Gesprächsszenen mit sorgfältig modellierten Dialogen besteht, erweckt der Film dank Bildgestaltung und Lichtsetzung (Kamera: Stefan Sommer) nie den Eindruck eines Kammerspiels. Clever ist auch die Visualisierung der möglichen Szenarien: Wenn sich Lannert und Bootz vorstellen, wie die Sache nach demende des Videos weitergegangen sein könnte, werden sie zu teilnehmenden Beobachtern. Eine tatsächliche Rückblende wirkt gegen Ende wie auf die Windschutzscheibe von Lannerts Porsche projiziert. Gaul hat unter anderem einen sehenswerten Dokumentarfilm über eine gemeinsame Tournee von Konstantin Wecker und Hannes Wader gedreht ("Wader Wecker Vater Land", 2011) und später mit seinem ebenfalls vom SWR (ko-)produzierten Zwei-Personen-Drama "Das Hotelzimmer" (2015) sein Regietalent unter Beweis gestellt.
Dritter Einschaltgrund ist das Ensemble. Müller und Klare haben viel Spielmaterial und mit Oliver Wnuk zudem einen Mit- und Gegenspieler von Format. Als geborener Sympathieträger ist der Badener, der in "Das Leben ist kein Kindergarten" einen Erzieher zum Verlieben und in der ZDF-Krimireihe "Nord Nord Mord" den lustigen Ermittler spielt, als potenzieller Schurke eine großartige Wahl, zumal er den Abteilungsleiter derart doppelbödig anlegt, dass ihm eine Vergewaltigung in alkoholisiertem Zustand durchaus zuzutrauen ist. Die Idee, dass Bootz die Lösung ausgerechnet in einem Hundehaufen findet, ist schlicht grandios. Es sind eben oft die unwahrscheinlichsten Details, die zur Aufklärung eines Falls beitragen.