Womöglich schwebte ihm tatsächlich schon damals eine Art spätes Lebenswerk vor: 2013 hat Olli Dittrich mit einem Zyklus von TV-Parodien begonnen, der seither sein beruflichen Schaffen prägt. Alles begann mit einer Persiflage aufs Frühstücksfernsehen; auch der Werdegang von Sandro Zahlemann. Der Journalist aus Sachsen avancierte zwischenzeitlich gar zum Chefreporter der ARD und hatte seine vermeintlich größte Stunde, als er 2016 vom Leipziger Hauptbahnhof live über die Ankunft des Königs von Bhutan berichten sollte. Was der krönende Höhepunkt seiner Laufbahn hätte werden können, wurde zu einem peinlichen Tiefpunkt.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Nun feiert Zahlemann ein Comeback. Tatsächlich ist ihm nicht weniger als der Coup des noch jungen Jahrzehnts geglückt. Die zumindest aus Sicht von Markus Söder verhängnisvollen Ereignisse nahmen ihren Lauf, als der mittlerweile von der ARD aufs Abstellgleis abgeschobene Journalist im Frühjahr 2021 einen eigenen YouTube-Kanal ins Leben rufen wollte und sich zu diesem Zweck ein Smartphone zulegte. Kaum hatte er die Nummer aktiviert, trudelten überraschenderweise schon die ersten SMS-Nachrichten berühmter Zeitgenossen ein. Es dauerte eine Weile, aber dann fiel der Groschen: Die Botschaften galten nicht ihm, sondern keiner geringeren als der damaligen Bundeskanzlerin. Offenbar hatte Angela Merkel zwischenzeitlich das Telefon gewechselt; der Mobilfunkanbieter hatte ihre alte Nummer zu früh neu vergeben. Da Zahlemann ein höflicher Mensch ist, hat er die Nachrichten freundlich und zudem, soweit ihm dies möglich war, im vermuteten Sinn der Kanzlerin beantwortet; bis sich ihm eines Tags unverhofft die Gelegenheit bot, eine alte Rechnung zu begleichen und auf diese Weise indirekt ganz erheblich in die politischen Geschicke des Landes einzugreifen.
Olli Dittrich, Schöpfer des Alltagsphilosophen Dittsche, ist im Verlauf seiner nunmehr dreißigjährigen TV-Karriere mit allen nur erdenklichen Fernsehpreisen geehrt worden, darunter allein vier Grimme-Preise. "Ich war Angela Merkel – Das Zahlemann-Protokoll" ist bereits der zwölfte Beitrag zum aus täuschend echt wirkenden Parodien bestehenden "Mockumentary"-Zyklus; ausgezeichnet wurden bislang "Schorsch Aigner – Der Mann, der Franz Beckenbauer war" (Grimme-Preis, Bayerischer Fernsehpreis), "Selbstgespräche mit Konstantin Pfau", "Der Meisterreporter – Sigmar Seelenbrecht wird 81" sowie "Trixie Nightmare – Der tiefe Fall der Trixie Dörfel" (alle jeweils mit dem Deutschen Comedypreis). Sämtliche Beiträge sind allerdings weit mehr als nur Kleinodien der Unterhaltungskunst. Auch handwerklich bewegen sich die Sendungen auf höchstem Niveau, zum Teil sind sie sogar innovativ. Zahlemanns erstes Solo ("Der Sandro-Report: Zahlemann live") ist in einer einzigen Einstellung gedreht worden. Ungleich verblüffender war der Effekt bei "Das TalkGespräch". In der Sendung verkörperte Dittrich sämtliche Teilnehmer einer Talkshow. Dank einer speziellen Kameratechnik war es möglich, dass die Gäste auch bei Fahrten oder Schwenks gleichzeitig agieren konnten.
Solche technischen Tricks hat das "Zahlemann-Protokoll" zwar nicht zu bieten, aber dafür wie schon einige der früheren "Mockumentaries" wieder diverse Überraschungsgäste, die den Authentizitätsanspruch untermauern: CDU-Politiker Wolfgang Bosbach plaudert über seinen regen SMS-Austausch mit Merkel, während "Tagesthemen"-Moderatorin Caren Miosga eine Einschätzung des Kollegen Zahlemann zum Besten gibt ("toller Reporter, gelegentlich übereifrig"). Sehr sympathisch ist auch die Mitwirkung Tom Buhrow, zumal der WDR-Intendant nicht immer eine glückliche Figur abgegeben hat, wenn es um satirische Produktionen seines Senders ging. Ihn hat ein spezielles Angebot Merkels erreicht: Die Kanzlerin sei nach dem Ende ihrer Amtszeit gern zum Exklusivinterview bereit, vor allem, wenn Sandro Zahlemann die Fragen stellen würde.
Die verblüffendste Enthüllung des "Zahlemann-Protokolls" (Buch: Dittrich und Claudius Pläging) ist jedoch die Wahrheit über die Kandidatenkür der Union, zumal die Reportage Zahlemanns Behauptungen mit entsprechenden Aussagen der Herren Laschet und Söder aus verschiedenen Pressekonferenzen belegen kann. Die Qualität der verwechselbar echten Parodie zeigt sich wiederum in der optischem Umsetzung: Die Aufnahmen vom scheinbar sinnierend durch die winterliche Natur schlendernden Zahlemann sind genauso beliebig und einfallslos wie in den echten Reportagen von ARD und ZDF. Der Unterschied offenbart sich im Detail: Die Rückseite seiner ARD-Jacke zeigt nur scheinbar das typische "mdr"-Logo.