Die Moritat vom Jungen, der für eine Unbotmäßigkeit bitter bestraft wird, war letztlich ein Kommentar zum zersplitterten Zustand des Deutschen Bundes nach 1815. Davon ist in den vielen Verfilmungen nicht mehr viel übrig geblieben, und auch die Adaption von Adrian Bickenbach reduziert die Handlung auf ihren bekannten Kern: Der kleine Jakob macht sich über Gestalt und Gesicht einer Hexe lustig und muss ihr zur Strafe fortan als Küchensklave dienen. Bevor sie ihn nach einem sieben Jahre dauernden Festmahl endlich entlässt, verwandelt sie ihn in einen buckligen Zwerg und hext ihm überdies einen riesigen Zinken ins Antlitz. Weil er dank ihres ganz besonderen Rezeptbuchs ein formidabler Koch geworden ist, tritt er in die Dienste eines nimmersatten Herzogs und wird schließlich Oberküchenmeister. Trotz seines auskömmlichen Lebens hätte er gern wieder seine ursprüngliche Gestalt zurück, und ausgerechnet eine eigentlich als Braten vorgesehen Gans erweist sich als Retterin in der Not.
Im Unterschied zu den sechzig Minuten kurzen Weihnachtsmärchen der ARD ("Sechs auf einen Streich") dauern die Verfilmungen im ZDF stets eineinhalb Stunden, weshalb sich die eine oder andere Adaption der letzten Jahre zwischendurch etwas gezogen hat. Für "Zwerg Nase" gilt das auch: Gerade im Mitteldrittel passiert nicht viel, weil im Grunde nur gekocht und gegessen wird. Die Leckereien sehen allerdings derart köstlich aus, dass es sich nicht empfiehlt, diesen Film hungrig anzuschauen. "Zwerg Nase" ist ohnehin ein optisch opulente Köstlichkeit. Der mehrfach ausgezeichnete Kameramann Ngo The Chau hat 2019 mit dem prächtigen ZDF-Märchen "Schneewittchen und der Zauber der Zwerge" sein Regiedebüt gegeben. Ein Jahr später folgte "Die Hexenprinzessin", ebenfalls vortrefflich anzuschauen. "Zwerg Nase" ist nicht ganz so fesselnd, weil der Film streckenweise wie eine Kochsendung wirkt, aber das ändert sich, als die Gans Mimi (Josephine Thiesen) auftaucht. Das Mädchen ist die Tochter eines Zauberers und wie Jakob von der Hexe verwandelt worden; als Schicksalsgefährten können sie miteinander sprechen.
Kulinarischer Höhepunkt des Films ist eine Völlerei, zu der Herzog Kunz (Daniel Zillmann) seinen Nachbarn, den Fürsten Humbert (Alexander Schubert), geladen hat. Die beiden Männer liegen in einem ständigen Wettstreit und versuchen dauernd, sich gegenseitig zu übertrumpfen, wobei Kunz regelmäßig unterliegt. Dank der Kochkünste seines kleinen Oberküchenmeisters will er nun endlich mal obsiegen, und ausgerechnet die schier unlösbare Herausforderung, mit der Humbert den Meisterkoch konfrontiert, hat schließlich dank Mimis Unterstützung zur Folge, dass der Zwerg wieder zu Jakob wird. Nun muss nur noch das Mädchen seine ursprüngliche Gestalt zurückbekommen, und selbstredend sollte auch das Treiben der Hexe ein für alle Mal beendet werden.
"Zwerg Nase" hat gerade in den Nebenrollen einige namhafte Mitwirkende zu bieten: Maria Simon spielt Jakobs Mutter, Stephan Luca den Zauberer und Anica Dobra die Hexe. Daniel Zillmann, sonst oft zu laut, ist genau die richtige Besetzung für den verfressenen Herzog. Jürgen Vogel gibt sich akustisch die Ehre: Er trägt die Kochanleitungen, denen Jakob im Reich der Hexe folgen muss, in einer Art Sprechgesang vor. Entscheidend aber sind die Hauptdarsteller.
Jonathan Tittel macht seine Sache als junger Jakob recht gut, und dem kleinwüchsigen Mick Morris Mehnert gelingt es scheinbar mühelos, die Titelfigur als wackeren Helden zu verkörpern, den stets ein Hauch von Melancholie umweht, weil er weiß, wie sehr seine Mutter unter seinem Verschwinden leidet.
"Star" des Films ist jedoch dank Ngo The Chaus Spiel mit Licht, Farbe und Schatten die Bildgestaltung. Schon der Abstieg in die düstere Unterwelt zu Beginn ist famos fotografiert. Das Hexenfest ist stellenweise furios inszeniert, rasant geschnitten und ebenso wie das abschließende Duell zwischen Hexe und Zauberer mit kinotauglichen visuellen Effekten durchsetzt. Viel Freude machen auch Szenenbild (Colin Taplin) und Kostümbild (Petra Stašková); gerade die Kleidung von Hexe, Zauberer und Herzog ist sehr originell. Wie in den meisten Märchenfilmen tragen die prominenten Gäste mitunter zu dick auf, und das Finale im Schloss ist eine Spur zu klamaukig geraten, aber davon abgesehen ist "Zwerg Nase" auch für ein erwachsenes Publikum sehenswert.