Seelsorge in Notfällen ist so alt wie die Kirche selbst. Die Sorge um Menschen in Not und "Werke der Barmherzigkeit" galten schon immer als zentrale Aufgabe für Menschen, die sich ihrem Glauben verpflichtet fühlen. Die regelmäßige Zusammenarbeit zwischen Notfallseelsorgern und Einsatzkräften von Polizei, Feuerwehr und Katastrophenschutz ist dabei erst wenige Jahrzehnte alt. Die ersten Schritte zur heutigen Form der Notfallseelsorge wurden 1962 infolge der Flutkatastrophe in Hamburg eingeleitet. In den 1980er Jahren entstanden dann verschiedene kirchliche Initiativen zur Gründung von Notfallseelsorgesystemen, um überkonfessionell und unmittelbar Menschen in seelischer Not Hilfe zu leisten.
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"Ein Startpunkt war 1988 das Flugzeugunglück auf der US-Militär Basis in Ramstein", erzählt Pfarrer Justus Fiedler, seit 2005 Beauftragter für Notfallseelsorge der Evangelischen Kirche in Berlin. Damals baten Polizei und Feuerwehr kirchliche Einrichtungen um die seelische Betreuung von Angehörigen der Opfer und Zeugen des Unglücks - der Auftakt für die ‚Arbeitsgemeinschaft Seelsorge in Feuerwehr und Rettungsdiensten' (AGS). "Die Kirche institutionalisierte damals ihren Grundauftrag von Seelsorge und Verkündung, der schon im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter beschrieben ist."
Unter den Freiwilligen sind Ärzte, Psychologen, Lehrer, Therapeuten
In der Folge entstand ein buntes System von kirchlichen und säkularen Hilfsorganisationen, die sich erst 1997 in den so genannten "Kasseler Thesen" ein gemeinsames Programm gaben: Im Mittelpunkt stand die Notfallseelsorge als "erste Hilfe für die Seele." Seit 1998 treffen sich die Seelsorger auch auf auf dem Bundeskongress der Evangelischen Kirche, um sich auszutauschen und fortzubilden. Dieses Jahr geht es in Erfut um die Begleitung von Kindern.
So wie Hilfsorganisationen anderer Landeskirchen bietet die Notfallhilfe von Pfarrer Fiedler in Berlin von der menschlichen Begleitung von verletzten oder unverletzten Beteiligten, über die Fürsorge für Angehörige und erschöpfte Einsatzkräfte, bis zur Überbringung der Todesnachricht gemeinsam mit der Polizei oder die Spende der Sakramente und Gebete für Sterbende und Tote.
Neben 60 Seelsorgern anderer Hilfsorganisationen arbeiten heute allein für die kirchliche Notfallseelsorge in Berlin rund 70 ehrenamtliche Mitarbeiter. Getragen wird sie von beiden Kirchen sowie von der Johanniter-Unfall-Hilfe, dem Malteser Hilfsdienst, dem Deutschen Roten Kreuz, der Deutschen Lebensrettungsgesellschaft und der interkulturellen Notfallseelsorge Berlin. Unter den Freiwilligen sind Ärzte, Psychologen, Lehrer, Therapeuten oder Menschen, die früher selbst Opfer einer Notsituation gewesen sind. Voraussetzung zum Einsatz als Notfallseelsorger ist ein offizielles Zertifikat als Krisenhelfer: mit einer dreimonatigen theoretischen Ausbildung bei einem der Hilfsdienste, sowie Praktika und diversen Weiterbildungen und Übungen dauert es rund ein Jahr, bevor man zum ersten Mal als Krisenhelfer eingesetzt wird.
"Häufig geht es bei unseren Einsätzen um die so genannte erfolglose Reanimation"
"Relativ häufig geht es bei unseren Einsätzen um die so genannte erfolglose Reanimation", erzählt Pfarrer Justus Fiedler, der die Krisenhilfe für die Evangelische Kirche in Berlin koordiniert. "Wenn ältere Menschen plötzlich versterben und die Wiederbelebungsversuche der Rettungskräfte erfolglos bleiben, werden wir von den Angehörigen oder den Einsatzleitern angefordert. Gerade in der Großstadt gibt es immer mehr einsame Menschen, die niemanden haben, der ihnen über den Verlust des Partners hinweghilft." Fiedler steht in direktem Kontakt mit der Leitstelle von Polizei und Feuerwehr und kann je nach Stadtgebiet einen freiwilligen Krisenhelfer in Bereitschaftsdienst an den Einsatzort schicken.
Während in der Bundesrepublik jeder Bedürftige einen Anspruch auf medizinische Versorgung hat, gilt dies für die seelische Betreuung nicht. Diese Lücke füllt die Notfallseelsorge mit mehreren Tausend Mitarbeitern bundesweit, was 2007 auch im so genannten "Konsensbeschluss" zwischen dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) und den Hilfsorganisationen offiziell festgeschrieben wurde.
Seit der Gründung ist die Anzahl der Einsätze in Berlin von 67 auf 327 gestiegen
Seit der Gründung der Berliner Notfallseelsorge im Jahr 1994 ist die Anzahl der Einsätze von 67 auf 327 im Jahr 2011 gestiegen. "Das liegt einerseits an unserer erfolgreichen Arbeit und unserem steigenden Bekanntheitsgrad", berichtet Justus Fiedler nicht ohne Stolz. Andererseits gebe es immer mehr Menschen, die keinerlei seelisches Auffangnetz wie die Familie oder feste soziale Rückhaltsysteme hätten. "In Krisensituationen brauchen sie andere Menschen, die ihnen zuhören, sie trösten oder auch ganz praktische Tipps geben, wie nach einer schweren Krankheit oder dem Tod eines Angehörigen das eigene Leben weitergehen kann."
Fiedlers Team ist nicht nur bei individuellen Schicksalsschlägen im Einsatz, sondern kümmert sich ebenso um Angehörige, auf Behandlung wartende Verletzte und erschöpfte Einsatzkräfte bei Großunfällen, wie unlängst bei dem schweren Busunglück auf der Berliner Stadtautobahn, bei dem zwölf Mitglieder einer polnischen Reisgruppe ums Leben kamen. Immer öfter fragen Einsatzkräfte zudem nach der Unterstützung durch einen Seelsorger bei der Überbringung von Todesnachrichten an die Angehörigen. Auch bei Evakuierungen, zum Beispiel nach einem Bombenfund, bei einer Brandkatastrophe oder in Gasnotfällen sind die Seelsorger zur Stelle, um die Betroffenen zu beruhigen und den Ausbruch einer Massenpanik zu vermeiden.
Die Notfallseelsorge ist kein therapeutischen Dienst
Das individuelle Gespräch mit einem Notfallseelsorger ist in der Regel auf einen Zeitraum von etwa zwei Stunden beschränkt, um eine zu enge menschliche Bindung zwischen Betroffenem und Seelsorger zu vermeiden: Bei der Notfallseelsorge geht es stets um die erste Hilfe für die Seele. Für eine weitere Betreuung vermitteln die Helfer dann an hauptberufliche Berater, Psychologen oder Therapeuten. Dennoch fühlt sich die Kirche auch in der Langzeitbegleitung dem Gedenken verpflichtet. Neben einem jährlichen Gedenkgottesdienst für die Opfer von Katastrophen hält Pfarrer Fiedler in seiner Gemeinde auch Messen an den Jahrestagen großer Unglücksfälle.
Als therapeutischen Dienst sieht Justus Fiedler die Notfallseelsorge dabei nicht. "Wir lehnen eine Pathologisierung des Leidens ab, denn jeder Mensch erlebt ein Unglück und dessen Verarbeitung auf individuelle Weise", sagt er. "Wir glauben an die Selbstheilungskräfte der Seele und trauen den Opfern auch eine gewisse Stärke zu. Wir helfen ihnen dabei, Abschied zu nehmen und zu erkennen, dass auch Schmerz ein Teil des Lebens sein kann."