Der Film beginnt mit einer kurzen Ansprache: LKA-Präsident Böhnisch (Hannes Hellmann) wechselt in den Ruhestand. „Wir hatten unsere Differenzen, aber ich verlasse mich auf Sie“, sagt er zu Nora Weiss (Anna Maria Mühe); dann geht er. Sie hat keine Ahnung, wovon er spricht, spürt aber, dass irgendwas nicht stimmt, und folgt ihm. Den Abschiedsblick, den er ihr aus dem Fahrstuhl zuwirft, wird sie nie vergessen. In der Tiefgarage steigt Böhnisch in sein Auto und erschießt sich; sie kommt zu spät. Auf ihrem Schreibtisch findet sie den Schlüssel zu seinem Vermächtnis: Die Wände einer Gartenhütte sind tapeziert mit den Dokumenten einer erfolglosen Recherche. Seit zwei Jahren ist Böhnischs Tochter Jasmin, die als Altenpflegerin in Rostock gearbeitet hat, wie vom Erdboden verschluckt, und Nora weiß nun, dass die rätselhafte Aussage ihres Chefs ein letzter Auftrag war.
„Kommissarin Heller“-Autor Mathias Klaschka war mit Ausnahme der letzten Episode bislang an allen „Solo für Weiss“-Filmen beteiligt. Die beiden Drehbücher, die er allein verfasst hat, lagen allerdings unter dem Durchschnitt der Reihe; „Für immer schweigen“ (2019) zum Beispiel war zwar ein interessanter Krimi, arbeitete sich jedoch allzu sehr am Gesundheitssystem ab. „Das letzte Opfer“ ist dagegen Thriller pur: Parallel zu den Ereignissen im LKA-Gebäude zeigt der Film die Flucht einer spärlich bekleideten jungen Frau aus einer Waldhütte. Am nächsten Tag wird an einem Strand in der Nähe von Lübeck die Leiche einer seit vier Tage vermissten Krankenpflegerin gefunden. Für Nora steht außer Frage, dass dieser Mord und Jasmins Verschwinden miteinander zusammen hängen. Der Lübecker Kripo-Kollege Brandt (Jan Krauter) findet raus, dass in Rostock vor einiger Zeit eine weitere junge Frau getötet worden ist: gleiches Alter, ähnlicher Typ. Der Ermittler, Dominik Kramer (Florian Lukas), hat sich die vergebliche Suche damals derart zu Herzen genommen, dass er den Dienst quittieren musste, und jetzt geht die Geschichte eigentlich erst richtig los: Jasmin Böhnisch fühlte sich von einem Stalker verfolgt und ist zur Polizei gegangen; aber dort verliert sich ihre Spur.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die Handlung ist jederzeit fesselnd und derart dicht erzählt, dass neunzig Minuten fast zu kurz wirken. Geschickt durchmischt Klaschka seine Geschichte mit Elementen, die auf den ersten Blick nichts mit der Mördersuche zu tun haben. Dass beispielsweise Brandt seinen kleinen Sohn mit ins Büro bringt, führt zu einer Geiselnahme, die Nora auf ihre Weise löst. Außerdem gibt es einige Momente, die einen reizvollen Kontrast zur Krimiebene bilden: Nora stöbert den von seiner Frau verlassenen Kramer, der seinen Kummer in Alkohol ertränkt, in einer Kneipe auf, bringt ihn nach Hause und lässt zu, dass er beim Einschlafen ihre Hand hält; zwei verlorene Seelen, die sich gefunden haben. Gerade in diesen Szenen zeigt sich das Talent von Regisseurin Esther Bialas, deren Langfilmdebüt, das sehenswerte Mystery-Drama „Wo kein Schatten fällt“ (NDR 2018), nicht minder sehenswert war.
Thriller-Spannung wie etwa beim fesselnden Finale, als Nora dem Mörder in die Falle geht, ist in der Regel das Resultat eines guten Zusammenspiels von Kamera, Schnitt und Musik; also Handwerk. So sorgen zum Beispiel sekundenkurze Einschübe mit Noras Visionen von Böhnisch und Jasmin für wirkungsvolle Schauereffekte. Anteilnahme zu wecken ist dagegen deutlich schwieriger, selbst wenn Klaschka seine Figuren mehrfach mit emotionalen Grenzsituationen konfrontiert. Auch dabei spielen Musik und Kamera eine entscheidende Rolle: Florian Tessloff trifft mit seinen vorzüglichen Kompositionen in den packenden wie auch in den entspannten Szenen exakt den richtigen Ton. Martin Neumeyers Bildgestaltung ist ebenfalls exzellent. Das ästhetische Konzept mit den kühlen Außenaufnahmen, die für eine düstere Atmosphäre sorgen, und den heimeligen Lichtinseln innen mag nicht originell klingen, aber die Umsetzung ist regelrecht kunstvoll. Auf ähnlich hohem Niveau bewegt sich Bialas’ Arbeit mit dem Ensemble. Neben der Hauptdarstellerin sowie Florian Lukas als anrührend deprimierter Ex-Polizist bleibt vor allem Tilman Strauß in Erinnerung.