Was hätte das für ein schweres, bedrückendes Drama werden können! Schließlich behandeln Pflegeheimgeschichten regelmäßig die gleichen düsteren Themen: Den Betreibern geht es nur ums Geld; das Personal ist überfordert und entsprechend unfreundlich; Söhne und Töchter haben ihre Eltern abgeschoben und hoffen, möglichst bald zu erben; von Siechtum und würdelosem Sterben ganz zu schweigen. Der Tod ist zwar auch in „Die Luft, die wir atmen“ zu Gast, aber davon abgesehen ist es schon erstaunlich, welch’ eine Lebensfreude die Autorin Julia C. Kaiser und der Regisseur Martin Enlen verbreiten. Dabei ist das mit viel Empathie umgesetzte Drehbuch weit davon entfernt, eine Komödie zu sein; und doch hinterlässt er eine heitere Gelassenheit.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Das hat vor allem mit den Begebenheiten zu tun, von denen der Film erzählt. Es gibt zwar keine zentralen Figuren, aber drei Paare rücken im Verlauf der Handlung stärker in den Mittelpunkt: Der alte Herr Glenski (Gerd Wameling) leidet unter beginnender Demenz. Seine Tochter Alisa (Bernadette Heerwagen) braucht unbedingt eine Bankvollmacht, weil sie die Kosten fürs Heim bislang aus eigener Tasche bezahlt, doch der alte Mann weigert sich zu unterschreiben. Derweil erleidet Jürgen (Thomas Loibl), der offenbar sein Leben lang unter einer furchtbaren Mutter gelitten hat, an deren Sterbebett eine Panikattacke, als sie plötzlich wieder zu sich zu kommen scheint. Die Heimleiterin bringt ihn über Nacht in einem Zimmer unter, das soeben frei geworden ist; dort trifft er auf Marianna, die Tochter (Patrycia Ziolkowska) der früheren Bewohnerin. Und dann ist da noch das Floristenpaar Klaus und Sylvia Bronstein (Rainer Bock, Ruth Reinecke): Sie wirkt auf den ersten Blick eigentlich noch sehr vital, hat sich aber für das Seniorenheim entschieden, weil sie nicht vor seinen Augen verkümmern will, doch für ihn fühlt es sich an, als habe sie ihn verlassen.
Bis zu diesem Punkt bewegt sich „Die Luft, die wir atmen“ in erwartbaren Bahnen, aber dann sorgt ein ebenso simpler wie cleverer Kniff dafür, dass das Dasein der Menschen eine entscheidende Wende nimmt: Draußen braut sich was zusammen. Schon zu Beginn des Films haben die Radionachrichten vor Blitzeis gewarnt. Als das Unwetter ausbricht und die Straßen nicht mehr passierbar sind, müssen alle Beteiligten die Nacht notgedrungen im Heim verbringen: die Besucher ebenso wie das Personal. Erst dadurch ergeben sich die klärenden zweiten Begegnungen von Vater und Tochter Glenski sowie des Ehepaars Bronstein. Auch Marianna wäre längst wieder auf dem Heimweg. So jedoch kann sie Jürgen Augen und Herz für die Liebe jenes Menschen öffnen, der ihm fortan zur Seite stehen wird. Von den vielen bewegenden Momenten des Films sind die vortrefflich gespielten Szenen mit Thomas Loibl und Patrycia Ziolkowska womöglich die schönsten. Unter anderen Rahmenbedingungen hätten sie das Zeug zur romantischen Komödie, weil Jürgen anfangs von einem Fettnäpfchen ins nächste hüpft.
Dass sich das Drama auch handwerklich auf hohem Niveau bewegt, mag angesichts der Erfahrung von Enlen keine Überraschung sein; der Regisseur hat neben vielen anderen sehenswerten Reihenkrimis einige der besten „Wilsberg“-Episoden gedreht. „Die Luft, die wir atmen“ beeindruckt nicht zuletzt durch die Bildgestaltung. Obwohl sich die Handlung fast ausschließlich im Heim zuträgt – als Drehort fungierte eine Jugendherberge im Taunus –, entsteht nie der Eindruck eines Kammerspiels. Dafür sorgen nicht zuletzt einige Fahrten durchs Gebäude, bei denen Enlens Stammkameramann der Heimleiterin (Neda Rahmanian), die für jeden ein freundliches Wort hat, und Pflegerin Martina (Katja Studt) durchs Gebäude folgt. Die beiden Frauen verfügen scheinbar über grenzenlose Langmut und unerschöpfliche Großherzigkeit; in dieser Hinsicht trägt der Film fast märchenhafte Züge.
Abgerundet wird das ausgezeichnete Drehbuch durch kleine Beobachtungen am Rande: Zwischendurch verschwindet Martina gern mal zum heimlichen Rauchen im Heizungskeller, wo sie außerdem einen Flachmann deponiert hat; später wird sie sich hier mit ihrer Chefin die letzte Zigarette teilen. Der Rest ist das Ergebnis von Enlens behutsamer Umsetzung des Drehbuchs und seiner exzellenten Arbeit mit dem vorzüglich besetzten vielköpfigen Ensemble, zu dem unter anderem noch Katharina Nesytowa (als Alisas Ehefrau) und Barbara Philipp (als Jürgens Schwester) gehören. Überflüssig ist gerade angesichts der schönen Musik von Dieter Schleip allein der fast schon inflationäre Schmusepop.