Felix Murot und die Frankfurter Schule: Das passt. Der LKA-Beamte aus Wiesbaden fällt ja ohnehin in vielerlei Hinsicht aus dem Rahmen des Sonntagskrimis. Nach menschlichem Ermessen dürfte er gar nicht mehr leben, schließlich hat er seine TV-Karriere mit einem Gehirntumor begonnen; sein Anagramm-Nachname ist auch eine Art ständiges „Memento mori“ (Bedenke, dass du sterben wirst). Außerdem ist Murot der einzige Intellektuelle unter den „Tatort“-Kommissaren; dank Ulrich Tukur sind die gedanklichen Exkurse zudem jederzeit glaubwürdig.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Im zehnten Film stellt sich raus, dass der Ermittler einst in Frankfurt Philosophie studiert hat, bevor er zur Polizei wechselte. Rund vierzig Jahre später holt ihn diese Vergangenheit wieder ein, als in der Bankenstadt mehrere offenbar willkürlich verübte Morde begangen werden. Als ein türkischer Gemüsehändler stirbt, weckt die Tat umgehend Erinnerungen an die Verbrechen des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds. Kurz drauf wird ein chinesischer IT-Spezialist erschossen, dann ein Stadtstreicher. Auch dieses Opfer würde ins Bild passen, schließlich galten Obdachlose im „Dritten Reich“ als unwertes Leben. Die Identität des Mannes offenbart jedoch eine Überraschung: Jochen Muthesius war einst der Star der Frankfurter Schule und hat große Stücke auf Murot gehalten, der während seiner Studienzeit quasi zur Familie gehörte.
Daraus hätte eine ganz normale Krimigeschichte werden können, aber natürlich hat es sich Martin Rauhaus nicht nehmen lassen, sein Drehbuch mit viel Philosophie anzureichern. Das ist anfangs reizvoll, aber auf Dauer strapaziös, zumal es einem Großteil des Publikums ähnlich ergehen könnte wie Murots Assistentin Wächter (Barbara Philipp), die angesichts der hochtrabenden Diskurse des Öfteren nur Bahnhof versteht. Mindestens genauso konstruiert mutet die psychologische Ebene der Geschichte an. Murot ahnt früh, dass die ersten beiden Morde nur begangen worden sind, um den dritten zu kaschieren; demnach wären die drei Sprösslinge des Opfers dringend tatverdächtig. Familie Muthesius erweist sich als ziemlich kaputt: Die Mutter hat sich schon vor Jahren in den Tod gestürzt, der Vater hat auf seinen Sohn geschossen und die Familie verlassen, um auf der Straße zu leben. Tochter Inga (Karoline Eichhorn) ist Therapeutin geworden, hätte eine Behandlung selbst jedoch, wie Wächter mitleidlos feststellt, am nötigsten. Nesthäkchen Laura (Friederike Ott) hat offenbar noch das Beste aus ihrem Leben gemacht: Sie arbeitet für eine soziale kirchliche Einrichtung. Komplett neben der Spur ist dagegen Paul, weshalb sich Lars Eidinger viele Gelegenheiten bieten, tief in die Schublade „Zorniger Rebell“ zu greifen. Das ist mitunter schablonenhaft, hat dem Schauspieler aber offenkundig ein großes Vergnügen bereitet, das sich prompt überträgt. Wenig originell ist auch der dramaturgische Rahmen: Der Film beginnt nach einem vierten Mord, dann folgt eine lange Rückblende. Der Prolog endet mit Murots in die Kamera einer Reporterin gesprochene Aufforderung „Töten Sie mich!“.
In der Filmografie von Rauhaus, unter anderem Schöpfer der ARD-Reihe „Hotel Heidelberg“, haben Krimis Seltenheitswert. Seine Dialoge sind allerdings stets ein Genuss; davon profitieren unter anderem die „Allmen“-Filme der ARD-Tochter Degeto mit Heino Ferch als Kunstdetektiv). Regie bei Raushaus’ erstem „Tatort“ führte Rainer Kaufmann, der auch früher schon Drehbücher des Autors umgesetzt hat; ihre mit Abstand beste Zusammenarbeit war „Ein starker Abgang“ (2008), eine Tragikomödie mit Bruno Ganz als unheilbar kranker Menschenfeind. Auch der für Filme wie „Marias letzte Reise“ oder „Operation Zucker“ mit allen wichtigen Fernsehpreisen ausgezeichnete Kaufmann kann jedoch nicht verhindern, dass „Murot und das Prinzip Hoffnung“ nicht der Ausnahmefilm geworden ist, der den Beteiligten garantiert vorschwebte. Das hängt auch mit der heterogenen schauspielerischen Qualität zusammen: Längst nicht alle Mitwirkenden sind wie Eidinger in der Lage, ihren Klischeerollen Tiefe zu verleihen. Einige Personen gleichen eher Kunstfiguren als echten Menschen, was gerade die Familienszenen wie Teile eines Theaterstücks erscheinen lässt. Angela Winkler wirkt als Nachbarin, die in Rätseln spricht, ohnehin wie ein Wesen nicht von dieser Welt.
Sehenswert ist der Film dennoch, selbst wenn der philosophische Überbau irgendwann prätentiös wirkt. Brillant ist beispielsweise der Einfall, dass sich die bei einer systemischen Aufstellung der Familie Muthesius verwendeten Holzpuppen in die Mitglieder des Ensembles verwandeln. Andere Stilmittel wie die „Egoshooter“-Perspektive oder die Aussagen der Mitwirkenden in die Kamera (aber nicht zum Publikum) sollen den Film dagegen ähnlich wie die immerhin unterhaltsamen Clownereien von Eidinger allzu offenkundig aus dem Rahmen fallen lassen. Bei seiner Bebilderung von Murots Studienzeit hat sich Kaufmann (Jahrgang 1959) zudem seltsamerweise im Jahrzehnt vertan: Die Atmosphäre signalisiert Flowerpower, aber der Kommissar hat in den frühen Achtzigern studiert.