Wenn eine Autorin von Ratgeberbüchern keinen Rat mehr weiß, ist das ein Problem: Jahrzehnte galt Stella Martin als eine Ikone ewiger Jugend. Ihre Sachbücher waren Bestseller, ihre Beauty-Produkte haben sie reich gemacht. Aber irgendwann hat es die Doyenne der Münchener High Society verpasst, mit der Zeit zu gehen: Ihr letztes Werk liegt wie Blei in den Regalen der Buchhandlungen, weil die nächste Frauengeneration ganz andere Erwartungen ans Leben hat; und sie selbst ist der beste Beweis dafür, dass ihre entsprechend unverkäufliche „Faltenfrei“-Creme keine Wunder bewirkt.
Stella ist eine Narzisstin, wie sie im Buche steht: egoistisch, selbstverliebt, arrogant; und völlig desinteressiert an den Menschen in ihrer engsten Umgebung. Deshalb bekommt sie gar nicht mit, dass Gatte Georg (Thomas Limpinsel) auszieht; letztlich ist es ihr auch egal, in erster Linie ist sie schließlich mit dem Erfolg verheiratet. Als aber auch der nun ausbleibt und sie zudem überzeugt ist, dass Georg eine Affäre mit ihrer Assistentin Adina (Lisa Jopt) hat, beschließt sie eine „Komplettsanierung“; immerhin ist Münchens angesagtester Schönheitschirurg (Manuel Rubey) ein guter Freund von ihr.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Natürlich darf es nicht zur Operation kommen, schließlich soll der Film ja die wenig überraschende Botschaft vermitteln, dass wahre Schönheit von innen komme. Wie bei allen Geschichten dieser Art bestand Brées Herausforderung darin, diese Lebensweisheit nicht wie ein Trostpflaster für all’ jene erscheinen zu lassen, mit denen es das Schicksal weniger gut gemeint hat als mit den Frauen und Männern auf den Titelseiten. Deshalb darf Stellas Demontage auch nicht zu weit gehen. Außerdem muss ihr Sinneswandel plausibel und nachvollziehbar sein. Zu diesem Zweck bedient sich Brée eines Kunstgriffs, der zwar nicht neu ist, aber funktioniert: Stella hat plötzlich ein unfreiwillig offenes Ohr für ihre Mitmenschen; sie kann jeden Gedanken hören, der in ihrer Umgebung gedacht wird, und was sie da mitbekommt, ist wie zu erwarten wenig schmeichelhaft.
Diese Gabe, die sich umgehend als Fluch erweist, ist ein wenig umständlich eingefädelt und das Ergebnis zweier schmerzhafter Unfälle in Kombination mit einer Überdosis Schmerz- und Narkosemittel, aber letztlich geht es ohnehin nur um den Effekt. Zunächst geben die Gedanken der Anderen Stella selbst nur wenig zu denken, auch wenn sie natürlich bestürzt ist. Verblüffend ist allein die Erkenntnis, dass sich im Kopf ihrer püppchenhaften Tochter gar nichts tut. Fiona (Henriette Richter-Röhl) führt exakt jenes Leben, das Stella in ihren Büchern propagiert, mit allen Vor- und Nachteilen: Ehemann Hubert (Lasse Myhr) bringt viel Geld ins Haus, das wie eine Kopie von Stellas luxuriösem Eigenheim wirkt, aber die Ehe ist längst am Ende, wie die Mutter auch ohne ihre neue Fähigkeit schon längst hätte bemerken müssen. Die jüngere Tochter, Johanna, ist dagegen in jeder Hinsicht das Gegenteil. Ihre Verbalpfeile triefen nur so von Sarkasmus und treffen jedes Mal ins Schwarze. Olga von Luckwald trägt ihre Dialoge ausgesprochen trocken vor, was die Wirkung noch verstärkt. Im Grunde erzählt „Faltenfrei“ die Geschichte einer Heldinnenreise, wenn auch nach innen; als Mentorin fungiert in diesem Fall eine Ärztin (Sibylle Canonica), die Stella den Weg in ein neues Leben weist.
Und so wäre der Film eine rundum gelungene Tragikomödie, wenn Brée (oder wer auch immer) nicht auf die Idee gekommen wäre, den Fluss der Handlung mehrfach zu stoppen, damit die Hauptpersonen die Ereignisse wie bei einer Kochshow kommentieren können. Das ist komplett überflüssig, zumal die Mitglieder des Ensembles nichts mitzuteilen haben, was sich nicht auch aus der Handlung ergäbe. Aber die darstellerischen Leistungen sind ausnahmslos vorzüglich, die Musik ist temporeich, die Schauplätze sind angemessen mondän, und Szenenbildnerin Maike Althoff hatte bestimmt großen Spaß an der neureich-geschmacklosen Einrichtung der Häuser von Stella und Fiona. Die Inszenierung besorgte Dirk Kummer („Warten auf’n Bus“), der seit seinem Regie-Comeback mit „Zuckersand“ (Grimme-Preis 2018) auf konstant hohem Niveau arbeitet; zuletzt hat die ARD sein Vater-Sohn-Drama „12 Tage Sommer“ ausgestrahlt.