Das hatte nicht zuletzt praktische Gründe: Weil sich die Verordnungen ständig geändert haben, hätten auch die Drehbücher dauernd angepasst werden müssen. Eigenproduktionen rentieren sich zudem erst, wenn sie möglichst oft wiederholt worden sind; also auch noch in einigen Jahren, wenn Covid-19 hoffentlich bloß noch eine Erinnerung ist. Davon abgesehen hilft das Fernsehen gern bei der Flucht aus der Wirklichkeit, weshalb die Sender ihr Publikum nicht auch noch in den fiktionalen Geschichten mit Corona behelligen wollten.
„Die Welt steht still“ ist tatsächlich der erste Fernsehfilm, der sich um kein anderes Thema dreht; schon deshalb ist das Projekt aller Ehren wert. Das Drehbuch der zweifachen Grimme-Preisträgerin Dorothee Schön („Frau Böhm sagt nein“, „Der letzte schöne Tag“) beschreibt den Pandemiealltag in einem Krankenhaus.
Schon Schöns Klinikserie „Charité“ hatte in medizinischhistorischer Hinsicht quasidokumentarischen Charakter. Das gilt hier erst recht. Die Handlung beginnt Silvester 2019, als noch niemand ahnte, welches Chaos nur wenige Monate später herrschen würde. Carolin Mellau (Natalia Wörner) freut sich auf den Sommer, wenn die zermürbende Zeit als Intensivärztin im Konstanzer Klinikum hinter ihr liegen wird; sie will mehr Zeit für die Familie haben. Aber das Leben hat andere Pläne: „Da kommt ein Tsunami auf uns zu“, fürchtet ihr Chef einige Wochen später. Die Bilder aus Bergamo bestätigen die düstere Prognose. „Bereitet euch auf einen Krieg vor“, warnt ein Straßburger Arzt (Nikolai Kinski) die Kollegin im Frühjahr. Der Franzose hat eine Patientin an den Bodensee begleitet, weil im Elsass keine Beatmungsplätze mehr frei sind. Im Thriller-Stil eines Countdowns informieren Einblendungen regelmäßig darüber, wie lange es noch dauern wird, bis auch in Konstanz der erste Mensch an dem Virus sterben wird.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Sehenswert ist „Die Welt steht still“ vor allem wegen der ungeschönten Schilderung der enormen Belastung für das Krankenhauspersonal: hier die wachsenden Spannungen, weil es von allem zu wenig gibt und ständig improvisiert werden muss, dort die verzweifelten Bemühungen, Leben zu retten. Schön konnte sich auf Informationen aus erster Hand verlassen: Ihre Tochter arbeitet als Intensivmedizinerin und Anästhesistin im Konstanzer Klinikum. Deutlich weniger gelungen ist der Versuch, die Begleiterscheinungen der Pandemie möglichst umfassend abzubilden. In dieser Hinsicht wirkt das Drehbuch mitunter, als habe die Autorin eine Checkliste abgearbeitet.
Im familiären Umfeld der Ärztin sind die Rollenentwürfe plausibel: Stefan Mellau (Marcus Mittermeier) ist Kammermusiker, muss seine Tournee absagen und kann schließlich auch keinen Musikunterricht mehr geben. Der Freund von Tochter Luzy (Lilly Barshy) wohnt im schweizerischen Kreuzlingen der Schweiz, die Liebenden trennt nun ein Grenzzaun. Ungleich klischeehafter ist dagegen die Figur des unvermeidlichen Corona-Leugners ausgefallen: Ein Nachbar (Klaus Pohl) hält das Virus erst für eine Erfindung, die den Reichtum von Bill Gates mehren soll, dann für eine israelische Biowaffe. Seine Tiraden enthalten von „Gesundheitsfaschismus“ bis „Staatsmedien“ alle Schlagwörter der Corona-Leugner und Impfgegner. Eine entsprechende Auseinandersetzung mit der Ärztin klingt wie ein typischer Disput mit einem sogenannten Querdenker, und das ist das Problem des Films: Während den Bildern aus der Klinik anzumerken ist, wie sehr Regisseur Anno Saul um Authentizität bemüht war, wirken die meisten Privatgespräche über die Pandemie und ihre Folgen akademisch und aufgesetzt.
Deutlich gelungener sind anrührende Momente wie jener, als die Französin aus dem künstlichen Koma erwacht und Carolin ihr mitteilen muss, dass ihr Mann die Infektion nicht überlebt hat. Ähnlich effektvoll ist die Idee, die Ärztin nicht nur als Mutter, sondern auch als Tochter zu zeigen: Im Krankenhaus muss sie die Angehörigen abweisen; an der Tür des Pflegeheims, in dem ihre demente Mutter lebt, ergeht es ihr selbst nicht anders. Trotz des emotionalen Potenzials dieser Szenen bleibt Saul, der in den letzten Jahren neben diversen Reihenkrimis auch die zweite „Charité“-Staffel inszeniert hat, seinem beobachtenden Stil treu. Diese Zurückhaltung gilt auch für die Musik (Jessica de Rooij), die die Gefühle nicht noch zusätzlich schürt.
Natürlich ist „Die Welt steht still“ nicht zuletzt eine Hommage an das Personal in den Krankenhäusern, zumal der Prolog keinen Zweifel daran lässt, dass die Ärztin schließlich einen hohen Preis für ihr Engagement zahlen wird. Der Film ist im Frühjahr 2021 entstanden, Konstanz steckte im „Lockdown“ der dritten Welle und somit in der gleichen Lage wie zwölf Monate zuvor; perfekte Voraussetzungen für das Drehteam, das zudem viele schöne Stimmungsbilder vom Bodensee eingefangen hat. Im Klinikum konnte selbstredend nicht gedreht werden; als „Double“ fungierte ein geschlossenes Krankenhaus in Weingarten. Die Sorgfalt im Detail zeigt sich auch musikalisch: Für Stefan Mellau und seine Kollegen hat Komponistin de Rooij ein eigenes Stück komponiert; als Kammerquartett fungieren Mitglieder des Deutschen Symphonie-Orchsters Berlin.