Inhaltlich ist der Titel völlig korrekt: Hauptfigur ist ein Polizist, Auslöser der Handlung ist ein Mord, und ein Kind spielt als einziger Zeuge der Tat ebenfalls eine ganz entscheidende Rolle. Trotz dieser typischen Zutaten ist "Der Polizist, der Mord und das Kind" jedoch kein Krimi, weshalb der Titel falsche Erwartungen weckt und Zuschauer, die der ständigen Mördersuche überdrüssig sind, womöglich vom Einschalten abhält. Das wäre außerordentlich schade, denn Johannes Fabricks Film erzählt von einer ungewöhnlichen Vater-Sohn-Beziehung. Der österreichische Regisseur ist ohnehin ein Meister des gefühlvollen Dramas. In seinen fast immer todtraurigen Geschichten geht es regelmäßig um Menschen, die mit traumatisierenden Ereignissen konfrontiert werden oder aus anderen Gründen an einer entscheidenden Weggabelung ihres Lebens stehen. Sein letztes Werk hieß „Nie mehr wie es war“, aber im Grunde hätten auch „Pass gut auf ihn auf!“ oder „Zweimal lebenslänglich“ (beide mit Julia Koschitz) diesen Titel tragen können. Eine von Fabricks wehmütigsten Arbeiten war „Der letzte schöne Tag“ mit Wotan Wilke Möhring als Ehemann und Vater, der mit dem Freitod seiner Frau leben muss. Das Drehbuch stammte von Dorothee Schön; Fabrick, Schön und Möhring wurden 2013 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
„Der Polizist, der Mord und das Kind“ (eine Wiederholung aus dem Jahr 2017) ist ein völlig anderer Film, aber es gibt entscheidende personelle und inhaltliche Parallelen. Auch diesmal hat Schön das Drehbuch geschrieben, auch diesmal kümmert sich ein Mann um ein Kind, das seine Mutter verloren hat: Carlos Benede (Matthias Koeberlin) arbeitet fürs Münchener Opferschutzkommissariat. Eines Tages muss er sich des elfjährigen Alexanders annehmen: Der Junge schlief nebenan, als seine Mutter erstochen wurde; der Täter war sein Vater. Carlos begleitet das Kind, das keine weiteren Verwandten hat, durch den Prozess, bei dem der Junge nicht nur aussagen, sondern auch anwesend sein will, um zu erfahren, ob sein Vater die Tat bereut. Als die Freundin der Familie, die Alex bei sich aufgenommen hat, unglücklich stürzt, springt Carlos ein und wird auf diese Weise plötzlich Vater.
Schön und Fabrick erzählen die Geschichte mit gleichermaßen großer Sensibilität wie Authentizität; das Drehbuch basiert auf Benedes Autobiografie „Kommissar mit Herz“ (erschienen bei Knaur). Der Film beschönigt weder das Trauma, mit dem der noch lange unter Alpträumen leidende Alex leben muss, noch die Schwierigkeiten im Verhältnis zwischen dem Polizisten und seinem Ziehkind; schweren Herzen muss Carlos die frische Beziehung zu seiner Freundin beenden, weil der Junge ihn komplett für sich beansprucht. Wie schon in „Der letzte schöne Tag“ kann Fabrick getrost darauf verzichten, bestimmte Vorfälle allzu sentimental zu inszenieren. Die Betroffenheit stellt sich von ganz alleine ein: weil der Regisseur wie nur wenige andere in der Lage ist, seine Schauspieler vermitteln zu lassen, was in ihnen vorgeht. Der blonde Koeberlin hat als Typ zwar keinerlei äußerliche Ähnlichkeit mit dem echten Carlos Benede, spielt den Polizisten aber jederzeit glaubwürdig. Die Szenen mit Alex sind auch deshalb von herausragender Qualität, weil Joshio Marlon seine schwierige Rolle mit Bravour meistert. Gerade in emotionalen Momenten stoßen Darsteller vor oder in der Pubertät oft ganz empfindlich an ihre Grenzen, aber der Junge macht das ganz vorzüglich.
Gleiches gilt für Vincent zur Linden, selbst wenn er rein quantitativ die kleinere Rolle hat. Er verkörpert Alex nach einem äußerst raffiniert eingefädelten Zeitsprung von sechs Jahren. Das Miteinander von Vater und Adoptivsohn ist einem Gegeneinander gewichen; der Teenager entpuppt sich als ähnlich aufsässig wie die meisten Jungs in diesem Alter. Just in dem Augenblick, als Carlos aufgeben will, klingelt das Telefon: Ein Fünfjähriger musste mit ansehen, wie seine Mutter auf furchtbare Weise ermordet worden ist, der Täter war sein Vater; und Carlos und Alex haben eine Aufgabe, die sie wieder zusammenschweißt.
Sein emotionales Fundament verdankt der Film natürlich der Vorlage, aber Schön und Fabrick haben sich offenbar genau für die richtigen Momente entschieden. Natürlich geht es ohne Umweg ans Herz, wenn sich Alex auf dem alten Anrufbeantworter die Stimme der Mutter anhört, aber selbst dies inszeniert Fabrick trotz der kullernden Träne vergleichsweise sachlich. Bei der ersten Umarmung von Carlos und Alex bleibt die Kamera taktvoll auf Distanz, und weil der Hund des Polizisten beide Jungs umgehend akzeptiert, gibt es sogar heitere Augenblicke. Wie überzeugend bereits das Drehbuch gewesen sein muss und wie gut Fabricks Ruf ist, zeigt sich nicht zuletzt an der prominenten Besetzung der zum Teil winzigen weiblichen Nebenrollen. Barbara Auer spielt Alex’ Anwältin im Prozess gegen den Vater, Stefanie Stappenbeck Carlos’ Freundin und Jutta Speidel seine einstige Lehrerin, die auch seine Patentante war: Carlos ist in einem von Franziskanerinnen geführten Kinderheim aufgewachsen und hatte eine glückliche Kindheit; die Zuwendung, die er damals selbst erlebt hat, gibt er nun an seine Schutzbefohlenen weiter.