Szenen dieser Art gibt es in beinahe jedem Krimi: Die Polizei steht vor der Tür und überbringt die schlimmste aller Nachrichten. Diese Momente bedeuten eine enorme Herausforderung für die Schauspielerinnen und Schauspieler: Der Schmerz über den Verlust eines Familienmitglieds gehört zu den Emotionen, die am schwierigsten zu verkörpern sind. Die Darstellungen solcher Gefühle ist daher stets eine Gratwanderung: Einerseits müssen sie aus der Rolle resultieren, andererseits sollten bestimmte Grenzen nicht überschritten werden. Allzu sehr zur Schau gestellte Seelenpein zum Beispiel mag zwar zur Persönlichkeit der jeweiligen Figur passen, wirkt aber auch schnell übertrieben und aufgesetzt; das Publikum ist dann nicht ergriffen, sondern peinlich berührt.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Auch der dritte Krimi mit Heino Ferch als Hauptkommissar Ingo Thiel aus Mönchengladbach (nach „Ein Kind wird gesucht“, 2018, und „Die Spur der Mörder“, 2019) schildert die Arbeit der Polizei fast im Stil einer „True Crime“-Dokumentation. Das ist außerordentlich fesselnd, zumal der Film verdeutlicht, wie oberflächlich handelsübliche TV-Krimis diesen Teil der Ermittlungen abhandeln. Hier eine DNS-Probe (hartnäckig zu DNA verenglischt), dort eine Funkzellenauswertung: schon gibt es kurz nach der Tat einen Verdächtigen. „Ein Mädchen wird vermisst“, erneut nach einem Drehbuch von Katja Röder und Fred Breinersdorfer entstanden, zeigt dagegen, wie mühsam die Tätersuche in Wirklichkeit ist: weil sie sich oft über Wochen oder gar Monate hinzieht und die ständigen Rückschläge an den Nerven zerren; natürlich auch an denen der betroffenen Eltern. Die nehmen ähnlich wie in dem an den „Fall Mirco“ angelehnten Film „Ein Kind wird gesucht“ einen großen Raum ein, und wie damals sorgen auch diesmal der Entwurf der Figuren und ihre Verkörperung mindestens für Irritationen.
Der einem authentischen Ereignis nachempfundene Krimi beginnt im Schwimmbad: Die 14jährige Nele ist Synchronschwimmerin, und weil sie ehrgeizig ist, bleibt sie etwas länger als die anderen. Als sie schließlich das Becken verlässt, ist der Umkleidebereich verlassen. Ein kleiner Schrei macht deutlich, dass sie keineswegs, wie die Polizei später mutmaßen wird, durchgebrannt ist. Weil die Mutter, die das Mädchen abholen sollte, zu spät gekommen ist, macht ihr Mann ihr bittere Vorwürfe, die sich durch den gesamten Film ziehen werden. Das Paar gerät immer wieder in Streit: Holger Sommer ist krankhaft eifersüchtig und würde seine Frau am liebsten rund um die Uhr kontrollieren; die Tochter natürlich auch. Als das Telefon des Mädchens am Rand einer Landstraße entdeckt wird, hat Thiels Soko endlich eine erste Spur. Kurz drauf wird Nele an einem Baggersee gefunden. Weil sich das Alibi des Vaters als Lüge entpuppt, gilt er vorübergehend als verdächtig, aber zumindest in dieser Hinsicht hat seine Eifersucht tatsächlich etwas Gutes.
Der Film verbringt viel Zeit mit den Eltern, die sich voller Hingabe gegenseitig zerfleischen. Vermutlich haben Sandra Borgmann und Martin Lindow gemeinsam mit Martin Imboden, der die Regie von seinem 2020 verstorbenen Schweizer Landsmann Urs Egger übernommen hat, intensiv überlegt, wie sie sich in diesen Szenen verhalten sollen. Die Bewertung ist sicher auch Geschmacksache, zumal jeder Mensch anders trauert, aber einige Szenen wirken zumindest befremdlich und eben nicht verkörpert, sondern gespielt. Außerdem ist da noch wie schon im ersten Film die enorme Diskrepanz zur eigentlichen Hauptfigur, weil Ferch den Ermittler von Anfang an mimisch womöglich noch sparsamer angelegt hat als beispielsweise seinen Psychiater in der ZDF-Reihe „Spur des Bösen“.
Unbedingt sehenswert ist „Ein Mädchen wird vermisst“ jedoch wegen der großen Sorgfalt im kriminalistischen Detail und der zermürbenden Spurensuche, die sich über mehrere Monate erstreckt, wie die regelmäßigen Einblendungen („Tag 79“) verdeutlichen. Gerade der letzte Teil des Films ist in dieser Hinsicht besonders spannend, als Thiel und sein Team endlich einen DNS-Treffer landen und sich nun erst zeigt, wie kompliziert diese Ermittlungsebene ist: Eine Speichelprobe führt zu einem Mann, der zwar nicht der Täter sein kann, aber sehr nah mit ihm verwandt sein muss. Die einzige Person, die in frage käme, ein Cousin, ist ein Mönch mit Alibi. Brüder gibt es nicht, zumindest keine, von denen die Familie wüsste, und sein Vater ist nach dem Tod eingeäschert worden; Thiels letzte Hoffnung ist eine vor über dreißig Jahre abgeleckte Briefmarke.