Wenn der Wind durch die Felsspalten heult, klingt das wie Schreie; schlichte Gemüter sind ohnehin überzeugt, dass der Teufel auf dem Wilzenberg regelmäßig Hexen jagt. Sonja war jedoch keine Hexe, sondern eine junge Frau, die nach dem Abitur der Enge ihrer sauerländischen Heimat entfliehen wollte; aber damals, im Herbst 1995, hat sich zu den Blumen auf ihrem Sommerkleid eine weitere rote Blüte gesellt. Gewissermaßen als letzten Gruß fand man bei der auf einer Bank am Teich aufgebahrten Leiche eine Spieluhr in Form einer Ballerina, die das Wiegenlied "Hush, Little Baby" spielte. Als 25 Jahre später in einem Kölner Parkhaus ein Zuhälter qualvoll getötet wird, geht die Polizei zunächst von einem Mord im Milieu aus, aber Jan Römer weiß es besser, denn auch diesmal erklingt "Hush, Little Baby" als Lied des Todes. Die beiden Taten hängen eindeutig miteinander zusammen: Entweder ist die Spieluhr die Signatur eines Serienmörders, oder irgendjemand nimmt Rache; aber die Behören wollen den Fall aus unerfindlichen Gründen vertuschen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Das zentrale Personal des Films entspricht der klassischen Rollenverteilung: Älterer Mann arbeitet mit cleverer jüngerer Frau zusammen. Lara Mandoki kennt die Konstellation bereits aus den "Erzgebirgskrimis" (ZDF); Torben Liebrecht hat allerdings deutlich mehr Ausstrahlung als Kai Scheve. Römer und Schneider sind ohnehin kein polizeiliches Ermittlerduo: Er ist selbstständiger Journalist, sie seine Mitarbeiterin. Das hat den großen Vorteil, dass die beiden nicht erst auf richterliche Beschlüsse warten müssen, wenn sie auf einer heißen Spur sind, und die führt selbstredend ins Sauerland: Sonja hat damals mit zwei Freundinnen in einer Wirtschaft gekellnert, aber dann hat das attraktive Trio was Besseres gefunden. Der neue Job war ein bisschen mysteriös, auf dem Weg zu der einsam gelegenen Gästehütte eines vermeintlichen Kölner Unternehmens mussten sie sich die Augen verbinden; und für eine der jungen Frauen endete der Trip tödlich. Bei den Befragungen der Einheimischen kommt das investigative Duo allerdings nicht recht weiter, zumal es einen mächtigen Gegenspieler gibt, von dessen Existenz sie keine Ahnung haben; von seinen Motiven ganz zu schweigen. Immerhin stößt Stefanie Schneider, wegen ihrer Vorliebe für Kopfbedeckungen aus Wolle bloß "Mütze" genannt, beim Schnüffeln in Sonjas Elternhaus auf einen fertig gepackten Koffer: Das hochintelligente und mit einem Stipendium belohnte Mädchen hatte offenkundig ganz andere Pläne als ihre reichlich heruntergekommene Mutter.
Das Drehbuch basiert auf einem der Römer-Romane von Linus Geschke; weitere Verfilmungen sind laut Degeto derzeit jedoch nicht geplant. Womöglich hält man bei der ARD-Tochter die Verwechslungsgefahr für zu groß: "Das Lied des toten Mädchens" ist eine Produktion der Firma all-in, die für das ZDF bislang die "Taunuskrimis" nach Nele Neuhaus hergestellt hat und auch für die "Schwarzwaldkrimis" verantwortlich ist. Produzentin hier wie dort ist Annette Reeker, die zudem unter dem Künstlernamen Anna Tebbe alle Drehbücher schreibt. Parallelen gibt es nicht nur beim gemischten Ermittlerdoppel, sondern auch bei der Umsetzung. Regie führte diesmal zwar Felix Herzogenrath, der für die Degeto auch einige eher spannungsarme "Usedom-Krimis" gedreht hat, aber die Anmutung ist die gleiche: Der Sauerlandkrimi ist ein Fest für Menschen, die mystisch-archaische Landschaftsaufnahmen mögen (Kamera: Stephan Wagner), zumal die Nebel wie in einem klassischen Horrorfilm wallen. Dass die Musik (Dominik Giesriegl) ihren Teil dazu beiträgt, die Stimmung noch bedrohlicher wirken zu lassen, versteht sich von selbst. Herzogenrath, der auch den nächsten Taunuskrimi inszeniert hat, überdreht die Schraube jedoch nie. Er bedient sich zwar diverser erprobter filmischer Mittel, um gekonnt und wirkungsvoll die Spannung zu steigern, doch es bleibt beim wohligen Gruseln.
Der Reiz der Geschichte resultiert natürlich in erster Linie aus der Frage, was sich damals ereignet, aber zwei von Peter Davor und Dirk Borchardt angemessen düster verkörperte Nebenfiguren geben zusätzliche Rätsel auf; die sogenannte dritte Generation der RAF wirkt im Hintergrund ebenfalls mit. Weitere Rollen sind mit Hans-Uwe Bauer als Sonjas einstigem Lehrer und Nadja Becker als eine der beiden Freundinnen von damals ebenfalls gut besetzt. Es wäre daher durchaus bedauerlich, wenn es tatsächlich keine Fortsetzungen geben würde, zumal Liebrecht und Mandoki ein interessantes Team sind: Er versieht seine Rolle mit einer sympathischen Melancholie, sie hat hier deutlich mehr Spielraum als in den Krimis aus dem Erzgebirge.