Als Ellen Norgaard in "Winterlicht" (2019) neue Kommissarin auf Usedom wurde, legte das damalige Drehbuchtrio einen Keim, der erst jetzt, acht Episoden später, aufgeht; ein Beleg nicht nur für den langen Atem des "Usedom-Krimis", sondern auch für die Komplexität dieser ARD-Donnerstagsreihe, die sich längst zu einer Saga entwickelt hat.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
In den ersten Filmen ging es neben den jeweiligen Fällen vor allem um die Konflikte zwischen Kommissarin Julia Thiel (Lisa Maria Potthoff) und ihrer Mutter Karin Lossow (Katrin Sass), einer früheren Staatsanwältin, die vor vielen Jahren im Affekt ihren untreuen Mann erschossen hatte. Nach Julias Tod wurde Ellen (Rikke Lylloff) ihre Nachfolgerin: erst im Polizeirevier, dann auch im Leben von Karin, bei der sie zur Untermiete wohnt.
Die beiden Frauen verbindet allerdings noch mehr: Ellen ist auf Usedom zur Welt gekommen. Vor dreißig Jahren ist ihre Mutter verschwunden; die Spur hat sich damals auf der deutsch-polnischen Insel verloren. Im 14. Film der Reihe schließt sich dieser Kreis, und nun lüftet das Drehbuch (Dinah Marte Golch) gleich mehrere Geheimnisse; die Handlung beginnt allerdings erst mal mit einem Schock.
Ellens Elternzeit ist zu Ende. Schweren Herzens überlässt sie ihren Sohn am Morgen des ersten Arbeitstages einer Tagesmutter, die den Vormittag mit zwei weiteren Kleinkindern am Strand verbringt. Als sie ihrem eigenen Jungen die Windel wechseln muss, überlässt sie die beiden anderen Kinder kurz der Obhut einer Frau, die einen vertrauenerweckenden Einruck macht. Kaum ist sie in der Toilette verschwunden, schnappt sich die Fremde Jesper und verschwindet. Gegenüber ihrem Lebensgefährten (Tilo Nest) gibt sie den Jungen als Enkel aus, und das stimmt sogar: Die Frau, die sich Solveig Borg nennt, heißt in Wirklichkeit Patrizia Hardt (Marion Kracht) und ist nicht nur Ellens Mutter, sondern war einst auch Karins beste Freundin. Sie hat lange in Argentinien gelebt und ist psychisch krank; das lässt das Schlimmste für den kleinen Jesper befürchten.
Felix Herzogenrath hat auch zwei Filme der letztjährigen "Usedom"-Trilogie inszeniert, wobei gerade "Vom Geben und Nehmen" (Episode 13) mehr Drama als Krimi war. Für "Entführt" gilt das noch stärker. Natürlich steht die Suche nach dem Baby im Mittelpunkt, aber im Grunde dreht sich die Geschichte um den Konflikt zwischen den beiden früheren Freundinnen, wobei sich die Besetzung mit Marion Kracht als cleverer Schachzug erweist; die Schauspielerin hat vor allem in eher leichten Filmen mitgewirkt. Das macht ihre Rolle besonders reizvoll, denn auf den ersten Blick wirkt die manipulative Patrizia wie eine perfekte Großmutter. Tatsächlich ist ihr Umgang mit dem Baby sehr liebevoll; aber ihre Krankheit macht sie unberechenbar.
Dinah Marthe Golch hat mehrere gute Drehbücher für den "Tatort" aus München geschrieben hat und ist für die Episode "Nie wieder frei sein" (2010) mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet worden. Ihr "Usedom"-Debüt konzentriert sich nicht auf Ellens Kummer, sondern auf die Borderline-Mutter, deren Stimmungsschwankungen und die daraus resultierende Sprunghaftigkeit mehrfach für Überraschungen sorgen; für die Autorin ist das zudem recht praktisch, weil Patrizias Verhalten nicht immer logisch sein muss. Psychologisch ist der Film daher interessant, zumal sich Golch inklusive eines tränenreichen Auftritts im argentinischen Fernsehen eine interessante Biografie für die Frau ausgedacht hat. Dank der Angst um ihr Kind rückt diesmal auch Ellen wieder stärker ins Zentrum; zuletzt war die Kommissarin bloß noch eine Nebenfigur. Ihr Stellvertreter, Karins Neffe Rainer Witt (Till Firit), bleibt der Reihe vorerst erhalten.
Klassische Krimispannung kommt in "Entführt" trotz der großen Empathie für alle Figuren –Patrizia ist ganz bewusst nicht als klassische Schurkin entworfen worden – allerdings allenfalls zum Finale auf. Am wirkungsvollsten sind die kummervollen Szenen: Patrizia singt dem Baby "Weißt du, wie viel Sternlein stehen" vor, Ellen stimmt im verwaisten Kinderzimmer zur Musik einer Spieluhr ein; anschließend greift auch die wie stets ausgezeichnete Musik (Colin Towns) das Thema auf. Die Bildgestaltung (diesmal Lars R. Liebold), ohnehin ein Markenzeichen der Reihe, ist ebenfalls vorzüglich. Gerade die atmosphärischen Aufnahmen zu Beginn geben eine Stimmung vor, die den gesamten Film prägt, weshalb auch das abgenutzte Klischeebild der leeren Schaukel zu verschmerzen ist.