Die Polizistin versieht ihren Dienst irgendwo in der Provinz und wird mit einem unverzeihlichen Fehler eingeführt. Zuvor stellt der Film jedoch den Schauplatz vor. Ein Kameraflug zeigt eine raue, kalte, abweisende Küstenlandschaft, die allerdings nicht gänzlich menschenleer ist: Auf einer Lichtung ist eine Frau wie ein lebender Raubtierköder an einen Pfosten gefesselt. Der Zufall hilft ihr dabei, sich zu befreien. Mit letzter Kraft schleppt sie sich in den Ort. In der einstigen Wikingerstadt Ribe herrscht an diesem Abend Ausnahmezustand, die Straßen sind wegen der Feier der Rauhnächte bevölkert von Menschen in historischen Kostümen, Alkohol fließt in Strömen. Entsprechend überfüllt ist auch das Polizeirevier; in den Augen von Ida Sörensen (Marlene Morreis) ist die zerschundene Frau, die sich kaum artikulieren kann, bloß ein weiterer von vielen betrunkenen Festgästen. Kurz drauf ist sie wieder verschwunden. Am nächsten Tag stellt sich raus, wer sie war: Smilla Vestergaard (Anne Kanis) ist das vierte Opfer eines Serienmörders, der scheinbar wahllos Männer und Frauen entführt, um sie in der Wildnis anzuketten und ihrem Schicksal zu überlassen; der Vermisstenhinweis hängt seit einer Woche im Revier an der Wand. "Sie hatten Besuch von einer Toten", stellt die angesichts des Fehlers der Kollegin fassungslose Kommissarin (Katharina Heyer) von der Mordkommission fest. Es gibt nur eine Möglichkeit für die Streifenpolizistin, diese Fehlleistung auszugleichen: Sie muss den Killer finden und hoffen, dass er sie zu Smilla führt.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Berndt scheint einen Faible für gebrochene Heldinnen zu haben; ähnlich wie Sarah Kohr ist auch die weibliche Hauptfigur der ZDF-Reihe "Die Toten vom Bodensee", für die der Autor ebenfalls seit vielen Jahren die Drehbücher verfasst, psychisch angeknackst. Gemessen an den beiden Kolleginnen führt Ida zumindest von außen betrachtet ein ganz normales Leben, selbst wenn Lebensgefährte Jannik Larsen (Tim Bergmann), ein Autor von Ratgeberbestsellern, schon seit einiger Zeit unter einer Schreibblockade leidet und sein Selbstmitleid pflegt, was regelmäßig zu Spannungen zwischen dem Paar führt. Immerhin trägt er indirekt dazu bei, dass Ida auf eine erste Spur stößt: Vor zwei Jahren hat ein etwas verschrobener Naturschützer (Simon Licht) das Skelett einer unbekannten Frau gefunden, die bereits seit zwei Jahrzehnten in dem unwegsamen Gelände lag; die Polizistin fragt sich, ob der Leichenfund bei dem Mann womöglich einen Impuls ausgelöst hat, der ihn zum Mörder werden ließ.
Mit Hilfe des Internets braucht Ida bloß eine Minute, um die Identität der Frau festzustellen. Das ist einerseits plausibel, setzt aber andererseits voraus, dass ihr Kollege Magnus Vinter (Nicki von Tempelhoff) nach dem Leichenfund nicht die gleiche Idee hatte, was kaum zu glauben ist; aber das ist die einzige Ungereimtheit des Drehbuchs. Der Bruder der Toten, Tjelle Fisker (Janek Rieke), ist froh, dass er nun endlich Gewissheit hat. Während seiner Depression nach dem Verschwinden der jüngeren Schwester, für die er nach dem frühen Tod der Eltern, Bruder, Vater und Freund war, haben ihm Janniks Bücher geholfen. Das Mädchen war damals Wanderführerin in der Gegend, ebenso wie Smilla, und damit hat Ida das fehlende Puzzlestück, das die Opfer miteinander verbindet.
Die abweisende Landschaft rund um Ribe ist der perfekte Schauplatz für die düstere Geschichte. "Rauhnächte" ist im Frühwinter entstanden. Kameramann Simon Schmejkal hat seinen Bildern konsequent jede Behaglichkeit ausgetrieben; die Musik (Dominik Giesriegl, Florian Riedl) tut ein Übriges. Regie führte Christian Theede, der auch die letzten beiden "Sarah Kohr"-Beiträge gedreht hat; die kürzlich ausgestrahlte Episode "Stiller Tod" war ein hochklassiger Thriller. Gerade die Szenen mit Anne Kanis im ersten "Dänemark-Krimi" – ob weitere folgen, hängt von der Resonanz– sorgen für große Empathie. Das beginnt bereits mit dem Prolog, als die bewusstlose Smilla durch Regentropfen geweckt wird. Umso niederschmetternder ist der Besuch im Polizeirevier. Nach dem zweiten Verschwinden kehrt der Film mehrfach zu ihr zurück, um ohne jeden Voyeurismus zu zeigen, wie langsam das Leben aus ihr schwindet.