Eine Schulstunde hätte ohnehin nicht ausgereicht, um alles zu Papier zu bringen, was ihm zu dem Thema einfällt; schließlich wird er einige Dutzend Hefte füllen.
In seinem 1968 erschienenen und 1971 schon einmal für die ARD verfilmten Roman "Deutschstunde" setzt sich Siegfried Lenz mit dem moralischen Persilschein auseinander, der vielen deutschen Mittätern nach dem Zweiten Weltkrieg geholfen hat, ihr Gewissen zu beruhigen: Sie hätten doch nur ihre Pflicht getan. In langer Rückblende erzählen Heide Schwochow (Buch) und ihr Sohn Christian (Regie), wie der kleine Siggi diese Pflichterfüllung gegen Kriegsende am eigenen Leib erlebt hat. Sein Vater Jens Ole Jepsen (Ulrich Noethen) war damals Polizist in einem kleinen norddeutschen Dorf gleich hinterm Deich. Eines Tages bekommt er ein wichtiges Schreiben, dass er dem Künstler Max Ludwig Nansen (Tobias Moretti) persönlich aushändigen soll: Aber sofort darf der Maler nicht mehr malen, seine Kunst gilt als "entartet", seine Bilder werden beschlagnahmt. Dass die Familien Jepsen und Nansen eng miteinander befreundet sind, hat den Polizisten nicht zu kümmern. Stur erfüllt er seine Pflicht, obwohl Max ihm einst das Leben gerettet hat. Weil Siggi (Levi Eisenblätter) bei den Nansens ein und aus geht, benutzt der alte Jepsen ihn als Spitzel: Er soll ihn umgehend informieren, wenn Max wieder malt. Aber der hat eine Idee, wie sich das Berufsverbot umgehen lässt: Er führt Siggis Hand, somit sind die auf diese Weise entstandenen Bilder das Werk des Jungen; eine Spitzfindigkeit, für die Siggi bitter büßen muss.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die Bildgestaltung (Frank Lamm) lässt eine äußerst bedrückende Atmosphäre entstehen. Die Innenaufnahmen sind genauso düster wie die Handlung. Wenn mal die Sonne scheint, wirkt das prompt deplatziert; die Strandbilder sehen aus wie fünfzig Jahre alte verblichene Ansichtskarten. Die Stimmung entspricht somit perfekt der Geschichte, deren zentrale Figuren in einem existenziellen Loyalitätsdilemma stecken: Jepsen muss sich zwischen Freundschaft und Obrigkeit entscheiden, Siggi zwischen dem Vater und Max. Beim älteren Bruder Klaas (Louis Hofmann) geht es gar um Leben und Tod: Er hat sich an der Front selbst verletzt und wird nun als Deserteur verfolgt. Siggi versteckt ihn in einem leerstehenden Haus, wo er alle seine Schätze aufbewahrt. Dort befinden sich neben einigen geretteten Bildern von Max auch diverse Tierkadaver, die er am Strand gefunden hat; eine grausige Vorwegnahme jenes Schicksals, das auch Klaas ereilen wird.
Schwochow erzählt die Geschichte, die er als "universelle Parabel" bezeichnet, in langen Einstellungen, die Kamera sorgt kaum für Dynamik; "Deutschstunde" ist ein Schauspielerfilm. Während Tobias Moretti fast automatisch zum Sympathieträger wird, ist Ulrich Noethen als vorbildlicher Untertan eine umso abschreckendere Figur. Womöglich geht es Jepsen sogar nahe, wie er mit dem früheren Freund und Lebensretter umspringt, aber er verbirgt seine Gefühle hinter einer stets verkniffenen Miene. Andererseits ist der Polizist kein durch und durch schlechter Mensch. Als er Siggi mit dem Rohrstock schlägt, deutet Noethen kaum merklich an, dass Jepsen keinerlei Freude an der Züchtigung hat; aber er hält es nun mal für seine Vaterpflicht, aus dem Jungen einen "brauchbaren Menschen" zu machen. Die in den frühen Fünfzigerjahren angesiedelte Rahmenhandlung verdeutlicht, dass das zwar geklappt hat, aber anders als gedacht: Siggi (als Teenager von Tom Gronau verkörpert) befindet sich einer Anstalt für schwer erziehbare Jugendliche; warum er dort einsitzt, verrät der Film erst ganz am Schluss, als der Sohn gewissermaßen den Protest der Studentenbewegung vorwegnimmt.
Schwochow ("Der Turm", 2012), vielfach ausgezeichnet (zuletzt für die ZDF-Serie "Bad Banks"), hat schon öfter mit seiner Mutter zusammengearbeitet; zu ihren gemeinsamen Werken gehören unter anderem "Novembermond" (2008) und "Bornholmer Straße" (2014). Im Kern folgt das Drehbuch natürlich der Vorlage, aber einige Figuren fallen in dem zweistündigen Film deutlich differenzierter aus. Das gilt vor allem für Siggis Mutter: Bei Lenz ist Gudrun Jepsen (Sonja Richter) eine glühende Nationalsozialistin; bei den Schwochows ist sie eine stille Dulderin, die sich versteckte Unbotmäßigkeiten erlaubt. Ähnlich wie der Roman arbeitet auch die Adaption mit starker Metaphorik. Die wichtigste ist eine Leerstelle: Im Unterschied zu den meisten Filmen über das "Dritte Reich" gibt es in "Deutschstunde" praktisch keine NS-Symbole. Als die Jepsens in ihrem Haus die Gemälde Nansens abhängen, bleiben weiße Flecken zurück; ein schlichter, aber unübersehbarer Hinweis darauf, wie lange die Familien bereits befreundet sind. Andere Metaphern erschließen sich erst bei näherem Hinschauen: Ein Bild des Malers zeigt attackierende Lachmöwen, die alle Jepsen nachempfunden sind (die Gemälde sind eigens für den Film entstanden). Als Siggis Schwester (Maria Dragus) im Watt Möweneier sammelt, wird sie prompt von den Vögeln angegriffen. Die Landschaft mit der endlosen Weite des Watts spielt so etwas wie die vierte Hauptrolle. Weil der deutsche Norden viel zu sehr vom Tourismus erschlossen ist, hat Schwochow den Film an der menschenleeren dänischen Küste gedreht. Mitunter wirkt seine Führung der Schauspieler zwar spürbar inszeniert, was die handelnden Personen prompt wie Bühnenfiguren wirken lässt, aber die Bildgestaltung ist formidabel; viele Einstellungen sind selbst ein Gemälde.