„Home Sweet Home“ ist jedoch der Auftakt zu einer neuen Samstagskrimireihe im ZDF: Ärztin Theresa Wolff (Nina Gummich), um die dreißig, ist eine Koryphäe auf ihrem Gebiet, hat in Berlin studiert und übernimmt trotz ihres jungen Alters die Leitung der Jenaer Rechtsmedizin; naturgemäß sehr zum Missfallen eines Kollegen (Peter Schneider), der selbst auf den Posten scharf war. Gleich ihr erster Fall konfrontiert sie mit ihrer Vergangenheit: Freizeittaucher entdecken beim Tauchen in einem Stausee ein Auto mit samt weiblicher Leiche. Vera Köhler war leitende Oberärztin am Klinikum, ihr Mann Steffen (Florian Bartholomäi), ebenfalls Arzt, war Theresas große Teenagerliebe. Als sie ihn besucht und in Veras Büro einen Hinweis entdeckt, der die Tochter einer Patientin belastet, hat der ermittelnde Kommissar (Thorsten Merten) ein Problem: Die Spur führt zu einer Kollegin, die ihre demente Mutter pflegt und mit dieser Aufgabe offenbar überfordert ist. Die Bilder einer Überwachungskamera zeigen die Frau wenige Stunden vor dem Tod von Vera Köhler bei einem heftigen Streit mit der Ärztin; der Fall scheint klar.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Was nach einem ganz normalen Krimi klingt (Drehbuch: Peter Dommaschk, Ralf Leuther), entpuppt sich als Geschichte, die einige Überraschungen bereithält. Sehenswert und vor allem vielversprechend ist „Home Sweet Home“ jedoch in erster Linie wegen der Hauptfiguren und ihres großen Entwicklungspotenzials. Nina Gummich, die bereits als Ärztin in der letzten „Charité“-Staffel medizinische Erfahrungen sammeln durfte, ist eine vorzügliche Besetzung für die Rechtsmedizinerin, die Situationen stets mit einem Blick erfasst, aber trotzdem nicht gefeit vor Fehlern ist. Weit mehr als bloß eine Ergänzung ist Thorsten Merten. Er spielt zwar ähnlich wie in den „Spreewaldkrimis“ (ZDF) oder im „Tatort“ aus Weimar nur die zweite Geige, aber ohne ihn wäre der Film bloß halb so kurzweilig. Dabei ist Robert Brückner keineswegs eine komische Figur: In einer der berührendsten Szenen bekommt der Hauptkommissar einen nächtlichen Anruf von seiner verwirrten Frau, die sich erst wieder beruhigt, als er ihr den City-Klassiker „Am Fenster“ vorsingt. Merten versieht seine Rolle mit viel Melancholie, sorgt aber dennoch immer wieder für kleine Heiterkeiten: Die ungestüme Theresa ist dem Polizisten gedanklich meist mindestens einen Schritt voraus und hält ihn ziemlich auf Trab.
Beim Entwurf der Hauptfigur standen die Autoren und Regisseurin Franziska Buch dagegen vor einer besonderen Herausforderung. Einerseits neigen die Mitglieder dieses Berufsstands im TV-Krimi gern zu einer gewissen Skurrilität, andererseits hat Ulrich Mühe in der ZDF-Serie „Der letzte Zeuge“ gewissermaßen den Prototypen des ermittelnden Rechtsmediziners verkörpert. Für Theresa Wolff hat man einen Mittelweg gefunden: Die Ärztin ist brillant, aber in einem glaubwürdigen Rahmen. Wunderlich ist sie auch nicht, im Gegenteil; mit ihren Mitmenschen kommt sie prima klar. Für die Rechtsmedizin sind Leichen ja in der Tat die oftmals einzigen Zeugen eines Verbrechens, aber Theresas Arbeitsmaxime sorgt dafür, dass sie mehr Zeit außerhalb des Instituts als am Seziertisch verbringt: „Wer den Tod begreifen will, muss erst mal das Leben verstehen.“ Schon allein die Momente mit Brückner, der sich immer wieder die letzten Haare rauft, weil Theresa ständig ihre Kompetenzen überschreitet und dadurch schließlich in Lebensgefahr gerät, sind ein großes Vergnügen. Trotzdem ist „Home Sweet Home“ keine Komödie, der Krimi steht stets im Vordergrund.
Auch die weitere Besetzung ist sehr gut gewählt. Weit mehr als bloß eine Ergänzung ist zum Beispiel Lea Drinda als Theresas pfiffige Praktikantin; die junge Schauspielerin hat schon als Ensemblemitglied der Serie „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ einen ausgezeichneten Eindruck hinterlassen. Sehr prägnant ist auch Kirsten Block in der vergleichsweise winzigen Rolle von Brückners Frau. Darüber hinaus erfreut das Drehbuch durch seine Sorgfalt im Detail, und das nicht nur in medizinischer Hinsicht. Sehr reizvoll ist zum Beispiel die Frage, warum Vera Koch offenbar noch schreien konnte, als das Auto bereits im Wasser unterging, obwohl sie doch angeblich schon tot war; die entsprechende kurze Szene geht unter die Haut.