Auf seinen Kern reduziert, handelt Friedrich Schillers Drama "Die Räuber" von einem Konflikt, der nur vordergründig dem ewigen Kampf zwischen Gut und Böse entspricht: In Gestalt der beiden Brüder stehen sich Vernunft und Gefühl gegenüber; und damit auch Gesetz und Anarchie. Der Titel von Wolf Gremms Kinoadaption aus dem Jahr 1977 brachte diesen Konflikt auf den Punkt: "Tod oder Freiheit". Auf den ersten Blick mag es etwas weit hergeholt wirken, den 37. "Tatort" mit Axel Milberg, "Borowski und der gute Mensch", mit dem Bühnenklassiker zu vergleichen, aber Grimme-Preisträger Sascha Arango bietet die Parallele selbst an: Das Stück, dass die Theater-AG der Kieler JVA zu Beginn probt, ist "Die Räuber". Der bewegende Monolog des Hauptdarstellers endet allerdings im Chaos: Als die Gefängnisdirektorin "Gewaltpornografie" wittert und die Proben beenden will, kommt es zum Aufstand. Es folgt eine wüste Prügelei, schließlich bricht ein Feuer aus. Ein Insasse nutzt die Wirren der Löscharbeiten zur Flucht. Es ist Kai Korthals, der als "stiller Gast" zur Nemesis von Klaus Borowski geworden ist.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Schon die erste Fortsetzung war eine brillante Idee. 2012 hatte Korthals seine Premiere im "Tatort" aus Kiel ("Borowski und der stille Gast"). Drei Jahre später wurde der Hauptkommissar erneut mit seinem schlimmsten Gegenspieler konfrontiert ("Borowski und die Rückkehr des stillen Gastes"). Drehbuchautor Arango bringt die Trilogie nun zum Abschluss und den Konflikt der beiden Kontrahenten endgültig auf den Punkt: Kai und Klaus sind wie Karl und Franz Moor, die Brüder aus "Die Räuber"; es gibt eine Verbindung zwischen ihnen, die nur der Tod beenden kann. Beim zweiten Aufeinandertreffen hatte Korthals die Verlobte des Polizisten entführt, was sich aus Sicht des dritten Films durchaus als ein Akt der Eifersucht interpretieren lässt. Auch diesmal treibt der Serienmörder wieder ein perfides Spiel mit Borowski, und erneut trifft es die Frau, die ihm am nächsten steht: seine Kollegin Mila Sahin (Almila Bagriacik).
Als Regisseur des dritten Teils wählten der NDR und die Produktionsfirma Nordfilm Ilker Çatak, für den dieser Krimi einen echten Kontrast zu seinen bisherigen Arbeiten darstellt. Sein Debüt war das Jugenddrama "Es war einmal Indianerland" (2017); es folgten, ebenfalls fürs Kino, die Liebesgeschichte "Es gilt das gesprochene Wort" (2019) und zuletzt der jugendliche Freundschaftsfilm "Räuberhände" (2021). "Borowski und der gute Mensch" ist dagegen ein Thriller, der bildsprachlich an die aufwändigen Werke von Christian Alvart ("Tatort" mit Til Schweiger) anknüpft. Schon der Auftakt im Gefängnis entwickelt gerade dank der sorgfältigen Lichtgestaltung (Kamera: Judith Kaufmann) eine enorme optische Intensität. Die Musik (Marvin Miller) ist ebenfalls von außerordentlicher Qualität.
Trotzdem ist es vor allem das Drehbuch, dem Çataks Fernsehdebüt seinen Ausnahmestatus verdankt, zumal es Arango gelungen ist, auch der eigentlichen Hauptfigur noch mal neue Seiten abzugewinnen. Star des Films ist dennoch Eidinger, der Korthals wie eine Reminiszenz an große tragische Figuren aus Literatur und Kino verkörpert. Der Eingangsmonolog, in dem Karl Moor seine Ungeheuerlichkeit beklagt, prägt den Blick auf den Mörder, der mitunter fast kindlich wirkt: Ähnlich wie Frankensteins Monster ist der missverstandene Korthals auf der Suche nach Zärtlichkeit. Sein Mantra "Ich bin kein schlechter Mensch", das sich auch durch die beiden anderen Filme zog, ist durchaus nachvollziehbar: Erst bewahrt er die Leiterin der Theater-AG davor, vergewaltigt zu werden, dann rettet er einen von seinem Besitzer misshandelten Hund, und schließlich verdankt sogar Borowski seinem Widersacher das Leben. Natürlich ist ein Happy End trotzdem nicht möglich, aber immerhin darf Korthals mit einer blinden Telefonseelsorgerin (Sabine Timoteo) ein vorübergehendes kleines Glück erleben.
Die andere Seite blendet der Film allerdings auch nicht aus, wobei Çatak die Taten zum Teil mit grimmiger Lakonie inszeniert: Als Korthals nach seiner Flucht einer Frau begegnet und sich ihrer Kleidung bedient, um unerkannt an der polizeilichen Straßensperre vorbeiradeln zu können, deutet allein eine Blutspur in seinem Gesicht an, woher die langen Haare unter dem Hut stammen. Trotz aller Düsternis der Geschichte, für deren Umsetzung sich Çatak stellenweise auch beim Horrorfilm bedient hat, gibt es einen Moment von unerwarteter Heiterkeit, als Korthals eine phänomenale Parodie Borowskis zum Besten gibt. Für Amüsement sorgt auch Victoria Trauttmansdorff als neue tschechische Haushaltshilfe des Kommissars. Die Rolle ist ein echter Gewinn für den "Tatort" aus Kiel, und es ist daher eine sehr gute Nachricht, dass sich Alma Kovacz auch weiterhin als Mary Poppins in Borowskis Leben unentbehrlich machen darf.