epd: Herr Bedford-Strohm, im November scheiden Sie nach sieben Jahren aus dem Amt des Ratsvorsitzenden der EKD. Nahezu jeder kennt die Bibelüberlieferung über die sieben Ernte- und sieben Dürrejahre. Waren es bei Ihnen fette oder magere Jahre?
Heinrich Bedford-Strohm: Aus meiner Sicht waren es fette Jahre. Und das gilt selbst angesichts der Veränderungen, die wir durch den Mitgliederrückgang erleben. Ich spüre einen Veränderungswillen hin zu einer Kirche, die auch mit weniger Mitgliedern ausstrahlungsstark ist. Zentrum des Aufbruchs war das 500. Reformationsjubiläum 2017. Da sind wir rausgegangen und haben nicht gewartet, dass die Menschen zu uns kommen. Das war eine Inspirationsquelle für das Nachdenken über die Kirche der Zukunft.
Dennoch steht die evangelische Kirche nun unter einem gewissen Spardruck. Kommen jetzt die mageren Jahre?
Bedford-Strohm: Es kommt darauf an, was man mit mager und fett bezeichnet. Es geht nicht in erster Linie ums Geld, sondern um die Kraft, die die Kirche hat. In einer pluralistischen Gesellschaft ist es eben nicht mehr selbstverständlich, Mitglied einer Kirche zu sein. Wir sollten das nicht beklagen, sondern gestalten.
Diskutiert wird immer wieder eine Reduzierung der Zahl der Landeskirchen. 20 gibt es heute. Wie stehen Sie dazu?
Bedford-Strohm: Das ist nichts, was aus der EKD-Ebene verordnet werden kann. Dass alle Landeskirchen darüber nachdenken, wie sie die Kraft des Evangeliums so wirkmächtig wie möglich machen können, ist selbstverständlich. Und dazu gehört natürlich auch die Infragestellung von Institutionen. Wenn Landeskirchen etwas gemeinsam besser tun können, sollten sie es tun.
In Ihre Amtszeit fallen neben den Strukturveränderungen auch die Fluchtbewegung 2015 sowie die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt. Was hat sie am meisten gefordert?
Bedford-Strohm: Im Sinne einer emotionalen Forderung ganz sicher das Thema sexualisierte Gewalt. Es ist jedes Mal wieder unfassbar, wenn ich Betroffenen gegenübersitze und höre, was ihnen angetan worden ist.
Betroffene werfen der evangelischen Kirche immer wieder vor, es mit der Aufarbeitung nicht ernst zu meinen. Wie wollen Sie das Gegenteil beweisen?
Bedford-Strohm: Wir lernen zunächst aus der Kritik. Dazu gehört auch anzuerkennen, dass die Situationen und Erwartungen der Betroffenen sehr unterschiedlich sind. Es dann richtig zu machen, ist extrem schwer. Auf jeden Fall habe ich das Gefühl, wir haben es nicht immer richtig gemacht.
An welchen Stellen?
Bedford-Strohm: Wir haben verkannt, dass die von uns eingesetzten Unabhängigen Kommissionen, die erlittenes Unrecht anerkennen und dazu auch entsprechende finanzielle Leistungen auszahlen, mit anderen Strukturen ergänzt werden müssen, die die institutionelle Aufarbeitung stärker in den Blick nehmen. Manche der Betroffenen hatten trotz aller ehrlichen Bemühungen nicht das Vertrauen, dass die Kirche energisch aufklärt. Wenn wir ihr Vertrauen nicht haben und auch nicht gewinnen können, müssen wir Hilfe von Menschen von außen annehmen. Das haben wir gelernt. Und bereits Konsequenzen daraus gezogen. Wir sind jedenfalls bereit, alles offenzulegen, was rechtlich offengelegt werden kann. Niemand hat ein Interesse an Vertuschung. Im Gegenteil: Wir wollen selbst über diese schrecklichen Dinge in unserer Kirche Bescheid wissen.
"Wir wollen über diese schrecklichen Dinge in unserer Kirche Bescheid wissen."
Braucht die Kirche also einen unabhängigen Missbrauchsbeauftragten?
Bedford Strohm: Ich glaube nicht, dass es an einer Person hängt. Wir haben einen Beauftragtenrat, Bischöfinnen und Bischöfe, die dem Thema viel Zeit widmen. Dazu kommt eine Fachstelle auf Ebene der EKD und eine große Anzahl an Kolleginnen und Kollegen in den Landeskirchen und in der Diakonie, die Prävention und Aufarbeitung vorantreiben. Mit dem Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs arbeiten wir seit langem eng zusammen.
Wäre es vielleicht besser gewesen, das Thema zur Chefsache, also zum Thema des Ratsvorsitzenden zu machen?
Bedford-Strohm: Es war immer Chefsache. Ich habe die Beratungen als Ratsvorsitzender intensiv begleitet. Der Rat der EKD hat beschlossen, den Beauftragtenrat zu gründen und die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs, die bereits besondere Erfahrung in der Aufarbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt in ihrer Landeskirche hatte, gebeten, erste Sprecherin des Gremiums zu sein. Wir haben die ganze Zeit eng kommuniziert.
Die Studie in der katholischen Kirche hat ergeben, dass unter anderem das Machtgefälle in der kirchlichen Hierarchie eine Ursache für Missbrauch sein kann. Blicken Sie heute auch anders auf Ämter in der evangelischen Kirche?
Bedford-Strohm: Ich glaube nicht, dass das Hauptproblem in der evangelischen Kirche bei der Ämterfrage liegt. Nach ersten Erkenntnissen war bei uns eher eine Art Kumpelkultur problematisch. Dadurch wurden Grenzen nicht gewahrt und sexualisierte Gewalt ermöglicht. Das wollen wir durch die von uns initiierte Aufarbeitungsstudie noch genauer analysieren. Der Zusammenhang von Macht und Gewalt wird aber auch Thema auf der kommenden Synodentagung sein.
Im Frühjahr wurde der von der EKD als Gegenüber zum Beauftragtenrat eingesetzte Betroffenenbeirat aufgelöst. Wie geht es mit der versprochenen Betroffenenbeteiligung bei der Aufarbeitung weiter?
Bedford-Strohm: Der Betroffenenbeirat wurde nicht aufgelöst, sondern musste leider ausgesetzt werden. Im Rahmen einer externen Expertise zur Neuausrichtung der Betroffenenpartizipation soll nun zusammen mit den Mitgliedern des Beirats eine bessere Struktur gefunden werden. In der Zwischenzeit bieten wir den Beiratsmitgliedern an, einzeln oder in Gruppen, durch Stellungnahmen ihre Perspektive in laufende Entscheidungsprozesse oder auch die Synode einzubringen. Ich freue mich sehr darüber, dass uns auf diese Weise Mitglieder des Betroffenenbeirats auch aktuell mit ihren Erfahrungen unterstützen.
Sie kämpfen mit hohem persönlichem Engagement bis heute für Aufnahme von Flüchtlingen und die Rettung aus Seenot. Ist es nicht frustrierend, wenn sich in der politischen Praxis dann doch wenig bewegt?
Bedford-Strohm: Das sehe ich anders. Unser konkretes humanitäres Engagement wird gewürdigt und hat auch etwas bewegt. Ohne die Kirchen, sagen viele Menschen, hätten wir die Aufnahme 2015 nicht geschafft. Und unsere Stimme hat nach meinem Eindruck auch Gewicht. Wir haben eine ganz andere Stimmung in Deutschland als etwa in Ungarn. Das hat auch damit zu tun, dass die Kirchen hierzulande klar Flagge gezeigt haben.
"Ohne die Kirchen, sagen viele Menschen, hätten wir die Aufnahme 2015 nicht geschafft."
Es gab aber auch eine Regierungschefin, die 2015 entschieden hat, die Grenzen nicht zu schließen. Werden Sie Angela Merkel vermissen?
Bedford-Strohm: Das ist jedenfalls ein guter Grund, sie als Regierungschefin zu vermissen. Es war ein Segen, dass 2015 ein Mensch an der Spitze unseres Landes stand, der trotz aller politischen Schwierigkeiten und Risiken, die damit verbunden waren, der Humanität den Vorrang gegeben hat. Damit hat sie einen Maßstab für die Zukunft gesetzt.
Sie hat sich damit aber auch Kritik zugezogen…
Bedford-Strohm: Mir gefällt nicht, wie einige im Nachhinein schlecht machen, was sowohl die Regierungen als auch viele Menschen in den Behörden, Verwaltungen, Ländern, Kommunen und vor allem Ehrenamtliche geleistet haben. Natürlich war es eine Kraftanstrengung, innerhalb so kurzer Zeit die erforderlichen Kapazitäten zu schaffen. Umso mehr war es eine Glanzstunde der deutschen Geschichte, dass Deutschland geholfen hat. Genauso war es eine Glanzstunde der Wirtschaft, so viele Menschen zu integrieren, die wir als Fachkräfte ja auch brauchen. Ich habe das selbst erlebt: Die wichtigste Bezugsperson meines Vaters in seinem letzten Lebensjahr im Pflegeheim war neben der Familie ein irakischer Flüchtling, der als Pfleger für ihn zum Segen geworden ist.
Was ist Ihre Forderung angesichts der vielen Menschen, die nun aus Afghanistan fliehen?
Bedford-Strohm: Zuallererst darf man den Fehler nicht wiederholen, zu wenig Geld für die Flüchtlingslager in den Nachbarländern zur Verfügung zu stellen. Die Leute sind 2015 nicht wegen eines Selfies nach Deutschland gekommen, das ein Geflüchteter mit der Kanzlerin gemacht hat, sondern weil sie ums nackte Überleben kämpfen mussten. Die Essensrationen in den Flüchtlingslagern haben nicht mehr ausgereicht.
Innerkirchlich galt ihr Engagement der Ökumene, der Beziehung zur katholischen Kirche. Sind Sie zufrieden mit dem aktuellen Stand?
Bedford-Strohm: Das Reformationsjubiläum, das wir gemeinsam begangen haben, war eine Wegscheide. Da sind so viele Beziehungen gewachsen, dass die ökumenische Bewegung nicht mehr rückholbar ist. Das gilt trotz der Hürden, die auch immer wieder aufgebaut werden, unter anderem aus Rom.
Das gemeinsame Abendmahl von Protestanten und Katholiken gibt es aber weiterhin nicht. Muss man sich von diesem Ziel verabschieden?
Bedford-Strohm: Auf gar keinen Fall. Paulus stellt angesichts der Spaltungen in der Gemeinde die Frage, ob denn Christus gespalten ist. Wir kennen die Antwort: nein! Wir können uns nie damit arrangieren, dass wir der Welt die aus der Liebe Christi kommende Einheit bezeugen wollen und es immer noch nicht geschafft haben, sie selbst am Tisch des Herrn zu praktizieren. Es gibt aber Fortschritte. Beim Ökumenischen Kirchentag gab es eine Einladung der katholischen Gemeinden zur Eucharistie an Menschen anderer Konfessionen, die nach Prüfung ihres Gewissens an der Eucharistie teilnehmen wollten. Es gab die Einladung trotz des Widerspruchs aus Rom.