Der Abspann verweist auf die skandinavische Serie "Die Brücke – Transit in den Tod", aber die Parallelen beschränken sich auf die Grundzüge der Handlung. Der Täter will Zeichen setzen und versteht seine Untaten als Werk, das wie ein Weckruf wirken soll. Die Mordserie erinnert in der Tat an die Motive des "Wahrheitsterroristen" aus der dänisch-schwedisch-deutschen Koproduktion. Auch der Auftakt ist ähnlich: Das erste Opfer wird auf einem verschneiten Alpenpass gefunden; der Mörder hat den Toten auf dem Grenzstein deponiert. Weil die weiteren Todesfälle ebenfalls deutsch-österreichische Bezüge haben, gründen die Polizeibehörden beider Länder eine gemeinsame Ermittlungskommission, die von der jungen Kommissarin Ellie Stocker (Julia Jentsch) geleitet wird. Ihr Pendant auf Salzburger Seite ist Gedeon Winter (Nicholas Ofczarek); und diese Kombination ist für die Handlung ähnlich fruchtbar wie die Mördersuche.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die kreativen Köpfe hinter der Serie sind Cyril Boss und Philipp Stennert ("Neues vom Wixxer", "Jerry Cotton". Die beiden haben unter anderem die ersten Episoden der ZDF-Reihe "Neben der Spur" ("Adrenalin"/"Amnesie", 2015/2016) geschrieben und inszeniert. Serien für Pay-TV-Sender und Streaming-Plattformen – "Der Pass" ist ursprünglich für Sky entstanden – funktionieren jedoch nach ganz anderen Regeln als Produktionen für große Sender, und das nutzen Boss und Stennert weidlich aus. Trotzdem verzichten sie auf selbstzweckhafte Sequenzen. Es gibt zwar manche Einstellungen im "Twin Peaks"-Stil, aber diese Bilder sind für die Atmosphäre des Films wichtig. Das gilt auch für die Musik von Jacob Shea, selbst wenn sie im Zusammenspiel mit dem Sounddesign oft wie ein Klangteppich klingt. In einigen Folgen führt der Amerikaner aus der Schule von Hans Zimmer, der die Musik produziert hat, exemplarisch vor Ohren, welch’ enormen Einfluss die Tonspur haben kann. Streckenweise mutet "Der Pass" wie ein Horrorfilm ohne Horror an: Das Geschehen wirkt harmlos, aber die Musik verkündet nahendes Unheil. Ganz entscheidend ist Sheas Anteil in jenen Sequenzen, in denen Boss und Stennert die Spannung mit Parallelmontagen auf die Spitze treiben: Während die Polizei überzeugt ist, dem Mörder eine perfekte Falle gestellt zu haben, schaut der sich in aller Ruhe im Haus der Kommissarin um und sorgt dank seiner technischen Fertigkeiten dafür, dass er sie fortan permanent lückenlos überwachen kann.
Neben der Musik, den teilweise raffinierten Szenenwechseln, dem vorzüglichen Schnitt und der herausragenden Kameraarbeit von Philip Peschlow, der einige grausig schöne Bilder gestaltet hat, lebt die Serie vor allem von den Figuren und ihren Darstellern. Sie sind es, die jenen suchtähnlichen Sogeffekt entsteht lassen, der garantieren soll, dass sich die Zuschauer ganze Nächte um die Ohren schlagen, weil sie wissen wollen, wie’s weitergeht. Boss und Stennert haben die acht Folgen allerdings mit jeweils eigener Binnendramaturgie versehen. Für den seriellen Faktor sorgt neben der Tätersuche die Beziehung zwischen dem Ermittlerduo. Auf den ersten Blick entsprechen die beiden typischen Klischees: hier die ehrgeizige Deutsche, dort der ausgebrannte Österreicher, dem nicht zu Unrecht Kontakte zum organisierten Verbrechen nachgesagt werden. Entscheidend ist, wie Julia Jentsch und Nicholas Ofczarek diese beiden Figuren mit Leben füllen. Er hat dabei die darstellerisch attraktivere Rolle, denn kaputte Typen sind immer interessanter; und Gedeon Winter ist richtig kaputt. Mit seiner seltsamen Unfrisur und dem stieren Blick wirkt er wie ein Untoter. Deutsche Sender trauen sich nur äußerst selten, das Publikum mit Polizisten zu konfrontieren, die derart fertig mit der Welt und sich selbst sind.
Die weiteren Rollen sind zwar nicht so markant besetzt wie das zentrale Duo, aber ähnlich treffend. Das gilt vor allem für Franz Hartwig, der den Mörder mit einer irritierenden Mischung aus Unscheinbarkeit und Charisma versieht: Im Alltag ist Gregor Ansbach ein Mann, den man sofort wieder vergisst, aber als Verbrecher entwickelt er eine fatale Vorliebe für Kontrolle, Macht und Zerstörung. Da er ein Narzisst ist, schickt er einem Reporter (Lucas Gregorowicz) regelmäßig Audioaufzeichnungen der Geständnisse seiner Opfer. Weil er wie alle Narzissten auf Kritik äußerst allergisch reagiert, muss Stocker bitter büßen, als sie ihn nach einem Terroranschlag öffentlich einen "bösartigen Feigling" nennt. Die Rache hat zur Folge, dass plötzlich nicht mehr die Deutsche, sondern der heruntergekommene Österreicher zur treibenden Kraft der Ermittlungen wird.
Neben der zunehmend faszinierenden Handlung liegt die große Qualität der Serie in ihrer erzählerischen Variabilität. Folge fünf zum Beispiel ist ein Exkurs, der zu großen Teilen aus Rückblenden besteht. In Folge sieben endet die Geschichte: Nicht die Polizei, sondern ein absurder Zufall sorgt dafür, dass der "Krampuskiller" von der Bildfläche verschwindet. Der Schluss dieser Episode liefert eigentlich die perfekte Vorlage für eine Fortsetzung, aber stattdessen nutzen Boss und Stennert Folge acht als Epilog, der von einer gruseligen Romanze erzählt. 3sat wiederholt Serie immer mittwochs um 22.25 Uhr.