In den Zwanziger- und Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts sorgten die sogenannten Serials dafür, dass vor allem jugendliche Besucher Woche für Woche ins Kino gingen: weil sie wissen wollten, wie die Geschichten ihrer Helden weitergingen. Die Kurzfilme endeten stets mit einer scheinbar ausweglosen Situation. Wenn der Abenteurer an der Klippe hing ("Cliffhanger") oder in einer tödlichen Falle saß, brach die Handlung ab: "Fortsetzung folgt". Nach diesem dramaturgischen Muster funktionieren heutzutage die meisten TV-Thriller. Auch in "Stiller Tod", dem sechsten Film mit Lisa Maria Potthoff als Sarah Kohr, endet der fünfminütige Prolog mit der Einblendung "12 Stunden vorher". Die Herausforderung für Buch (Timo Berndt) und Regie (Christian Theede) bestand darin, die Hochspannung des Auftakts nicht ins Bodenlose sacken zu lassen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die Rückblende beginnt scheinbar harmlos. Ein Mann zeigt seiner neuen Freundin seinen Arbeitsplatz. Er ist Mitarbeiter eines Hamburger Instituts zur Beseitigung chemischer Kampfstoffe. Sein Chef, Hartmut Diestel (Kai Wiesinger), ist gerade mit einer Granate beschäftigt, die Sarin enthält, als die Frau (Natalia Rudziewicz) plötzlich eine Pistole in der Hand hat und Diestel samt dem Sarinbehälter entführt. Um zu vermeiden, dass in der Stadt eine Panik ausbricht, will Staatsanwalt Mehring (Herbert Knaup) die Bedrohung unterm Radar halten, und setzt seine beste Frau auf den Fall an. Sarah Kohr braucht nicht lange, um rauszufinden, dass die Entführung bloß fingiert ist. Die vermeintliche Freundin entpuppt sich zwar als zum Islam konvertierte Witwe eines im Krieg getöteten syrischen "IS"-Kämpfers, doch der Drahtzieher der Aktion ist Diestel. Auch er sinnt auf Rache; sein Ziel ist eine Hamburger Chemiefirma.
Sarah Kohr ist erstmals 2014 in dem Thriller "Der letzte Kronzeuge – Flucht in die Alpen" aufgetaucht, aber im Grunde hat Berndt die Figur für die 2018 gestartete eigentliche Reihe neu erfunden und seither auch sämtliche Drehbücher geschrieben. Natürlich liegt der vordergründige Reiz der Filme im Entwurf der fürs hiesige Fernsehen nach wie vor ungewöhnlichen Protagonistin; auch diesmal muss sie einige heftig choreografierte Duelle auf Leben und Tod gegen den Schurken (Aleksandar Jovanovic als Söldner) der Geschichte überstehen. Beim zweiten Mal ist sie zudem durch eine Schusswunde im Arm erheblich eingeschränkt. Natürlich inszeniert Theede, der auch die nicht minder sehenswerte "Sarah Kohr"-Episode "Das verschwundene Mädchen" (2019, mit Ulrich Matthes einen Gegenspieler) gedreht hat, die Heldin als "Last Woman Standing", die immer noch da ist, wenn sonst keiner mehr da ist, wie sie es selbst formuliert. Anders als die von Arnold Schwarzenegger, Bruce Willis und Silvester Stallone verkörperten Recken im Actionkino der Achtziger- und Neunzigerjahre hat Sarah Kohr jedoch noch eine zweite Seite. Ihre Mutter (Corinna Kirchhoff) ist überzeugt, dass die Tochter wegen einer alten Schuld von Todessehnsucht getrieben wird. Diese Ebene wirft ein gänzlich anderes Licht auf die Heldin und sorgt dafür, dass sie hinter ihrer unnahbaren Fassade sehr verletzlich wirkt; dieser Kontrast macht den eigentlichen Reiz des Films aus.
Der Rest ist Handwerk, aber auf einem sehr hohen Niveau, deutsche TV-Thriller sind in dieser Hinsicht ohnehin oft von bemerkenswerter Qualität: Als Diestel einen Mechanismus auslöst, der nach Ablauf einer bestimmten Frist das Gas freisetzt, beginnt ein Wettlauf gegen die Uhr, der umso packender ist, weil Sarah keine Ahnung hat, wie viel Zeit ihr noch bleibt; und dann sind da noch zwei skrupellose Rechtsextremisten, die mit einem Fanal die Stimmung im Land kippen lassen wollen. Gerade die Bildgestaltung ist ausgezeichnet; Tobias Schmidt hat den Prolog in ein leicht grünstichiges und, passend zum Sarin, sehr ungesund wirkendes Licht getaucht. Mindestens genauso wichtig ist die Musik; Boris Bojadzhiev hat Kohr schon in den letzten Episoden förmlich vor sich hergetrieben. Die Faszination des Films resultiert trotzdem aus dem Drehbuch. Die Handlung ist keineswegs so übersichtlich, wie sie auf den ersten Blick wirkt, zumal Berndt gleich mehrere wichtige Personen verschiedene Gesichter zeigen lässt. Auf diese Weise ergibt sich unter anderem eine überraschende biografische Parallele zwischen Kohr und Diestel; der entsprechende Dialog ist auf emotionaler Ebene ähnlich intensiv wie die Actionszenen.
Dank dieses Facettenreichtums können Berndt und Theede ihre Heldin und vor allem deren Darstellerin umso uneingeschränkter feiern. Potthoffs verschiedene Kraftakte, wenn sie beispielsweise scheinbar mühelos mehrere Balkone hinaufklettert, mögen nichts mit Schauspielkunst zu tun haben; mehr als bloß respektabel ist es trotzdem, dass sie diese Stunts selbst übernimmt. Außerdem sind da ja noch die anderen Momente. Als die Filmhandlung kurz vor Schluss den Prolog wieder einholt, ist Theede und Schmidt eine Einstellung von großer emotionaler Kraft gelungen: Die Heldin, zerschunden und mutmaßlich dem Tode geweiht, nimmt mit dem Giftbehälter im Arm Abschied von Mehring, ihrem früheren Geliebten. Der Schmerz in ihrem Blick verleiht ihr eine fast jenseitige Schönheit. Kein Wunder, dass das Bild an eine Pietà erinnert; selbst wenn sie nicht Jesus, sondern den Antichrist in ihren Armen hält.