Eine Frau verliert mit Anfang fünfzig ihren Job als mobile Backwarenverkäuferin, aber anstatt den Kopf hängen zu lassen, kauft sie sich ein eigenes Verkaufsauto und fährt weiterhin ins brandenburgische Umland, wo sie sich allmorgendlich ein Wettrennen mit ihrer Nachfolgerin liefert: Das klingt wie eine Dienstagsserie, zumal Gabriela Maria Schmeide die Titelfigur als Frau mit großem Herzen verkörpert. Es dauert fast einen Spielfilm lang, bis sich rausstellt, warum die ARD "Tina mobil" in Doppelfolgen am Mittwoch ausstrahlt: Plötzlich zeigt Tina ein Gesicht, das vielleicht nicht ihr wahres, aber ein gänzlich anderes ist.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Bis dahin jedoch erzählen Laila Stieler (Buch) und Richard Huber (Regie) eine Geschichte aus der Mitte des Lebens, die vor allem Mut macht. Seit sie sich vom Gatten (Alexander Hörbe) getrennt hat, schlägt sich Tina mit ihren drei fast erwachsenen Kindern alleine durch. Die Familie entspricht schon optisch nicht den Maßstäben üblicher Fernsehfamilien. Caro (Runa Greiner), gelernte Kosmetikerin, vergräbt sich seit geraumer Zeit in der Wohnung, Felix (David Ali Rashed) wird es im Leben höchstwahrscheinlich nicht sonderlich weit bringen. Tina liebt auch sie, aber ihr Augenstern ist Julia (Fine Sendel), eine begnadete Musikerin, der womöglich eine große Karriere bevorsteht. Die Mutter malt sich die Zukunft ihrer Tochter in den rosigsten Farben aus und nimmt überhaupt nicht wahr, dass das Mädchen eigene Pläne hat. Huber (Grimme-Preis für "Dr. Psycho", Bayerischer Fernsehpreis für "Club der roten Bänder"), inszeniert das sehr behutsam: Als Julia ungewollt schwanger wird, begleitet Tina sie erst zur Frauenärztin und dann zur Beratungsstelle, schließlich ist das Mädchen selbstredend viel zu jung, um ein Kind zu bekommen. Weil die Tochter nur sehr zögerlich antwortet, übernimmt die Mutter die Antworten, und so kommt es schließlich zu einem innerfamiliären Eklat, der Tina in völlig anderem Licht erscheinen lässt: Ausgerechnet die Frau, die sich aufopfert, um ihren Kindern ein einigermaßen behütetes Leben bieten zu können, wirkt auf einmal herzlos.
Gabriela Maria Schmeide, die hinter Tinas Fröhlichkeit eine große Melancholie durchschimmern lässt, deren traurige Ursache erst viel später ans Licht kommt, muss die Serie wie ein Geschenk empfunden haben: Für Schauspielerinnen jenseits der fünfzig sind weibliche Hauptrollen nur noch wenigen Stars vorbehalten. Ungewöhnlich an "Tina mobil" ist jedoch nicht nur das Alter der zentralen Figur. Aus dem Rahmen fallen die sechs dramaturgisch in sich abgeschlossenen, aber horizontal erzählten Geschichten vor allem wegen der Lebensumstände: Die Sanftlebens sind eine ganz normale Familie. Während Konflikte sonst stets auf die Spitze getrieben werden, ist "Tina mobil" Alltag pur, und zwar der Alltag von Menschen, deren Leben im Fernsehen nur selten erzählt wird: Tina holt sich Lebensmittel bei der Tafel und schämt sich anfangs dafür. Der Nachwuchs ist nicht etwa renitent, sondern versucht, die Mutter zu entlasten, und murrt selbst dann nicht, als es zum wiederholten Mal Spinat gibt. Wie sich die Kinder langsam von Tina abnabeln, ist mit viel Feingefühl erzählt und eindrucksvoll gespielt. Das gilt vor allem für Runa Greiner: Als Tina ihren Führerschein abgeben muss, springt Caro als Fahrerin ein, beglückt die Kundinnen ihrer Mutter mit Kosmetiktipps und blüht regelrecht auf; wie Greiner diese Metamorphose verkörpert, ist mindestens ebenso preiswürdig wie Schmeides Spiel.
Stieler, die für die Hauptdarstellerin schon die Milieustudien "Die Polizistin" (2001, Regie: Andreas Dresen, Grimme-Preis für alle drei) und "Die Friseuse" (2010, Regie: Doris Dörrie) geschrieben hat, macht angenehm wenig Drama aus Tinas Situation. Das gilt für das kleine Ungemach ebenso wie für die potenzielle Tragödie: Meist gelingt es Tina, ihren Kopf aus der Schlinge zu quasseln, und wenn das nicht hilft, finden sich andere Auswege; so wird zum Beispiel ausgerechnet die tschetschenische Konkurrentin Safaa (Margarita Breitkreiz) zur Retterin der Not.
Dazu passt auch Hubers betont unaufgeregter Regiestil. Die Serie verhehlt nicht, dass Tina es nicht leicht hat, und ihre scheinbar unerschütterliche Zuversicht wirkt mitunter unangebracht, aber meist gelingt es ihr dank ihrer Hartnäckigkeit, für jedes Problem eine Lösung zu finden. "Tina mobil" ist kein Sozialdrama, sondern orientiert sich vielmehr am lakonischen Humor und der großen Wahrhaftigkeit, mit der der Brite Ken Loach seine Geschichten erzählt. Das Thema ist trotzdem ernst, denn letztlich zeigt Tinas Schicksal, wie leicht man aus der unteren Mittelschicht in die Armutsfalle abrutschen kann: Ihr Dasein ist derart auf Kante genäht, dass kleine Ursachen gleich eine fatale Wirkung haben können; von einem mehrwöchigen Krankenhausaufenthalt ganz zu schweigen. Julias Baby bringt zwar Farbe in die Familie, macht das Leben aber auch nicht einfacher. Dass allen Beteiligten ein ganz besonderes Projekt vorschwebte, zeigt sich nicht zuletzt an der sorgfältigen Besetzung auch kleinster Nebenrollen mit herausragenden und zumindest im Osten auch nicht in Vergessenheit geratenen Schauspielerinnen und Schauspielern alter Schule, darunter Monika Lennartz, Ursula Werner und Axel Werner. Klassiker von Gundermann, Karat und Veronika Fischer unterstreichen diese Verbeugung vor der ostdeutschen Kultur, die dennoch weit von Ostalgie entfernt ist. Die ARD zeigt die Serie mittwochs in Doppelfolgen, in der Mediathek kann sie komplett bereits ab dem 16. September abgerufen werden.