Wenn in einer Stadt wie Berlin ein Obdachloser erfriert, ist das allenfalls eine Meldung wert. Auch im Alltag wird von Stadtstreichern kaum Notiz genommen. Dabei haben die meisten eine Lebensgeschichte, die es wert wäre, erzählt zu werden, schließlich dürften nur die wenigsten freiwillig auf der Straße leben. Manchmal war es eine falsche Entscheidung, oft auch ein Schicksalsschlag, die sie aus der Bahn geworfen haben; und nicht selten hat ein Ereignis genügt, um eine Abwärtsspirale in Gang zu setzen, aus der es kein Entrinnen gab.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
In dem ZDF-Drama "Auf dünnem Eis" geht es um einen solchen Absturz, allerdings nicht aus Sicht des Betroffenen. Hauptfigur ist die Hotelköchin Ira (Julia Koschitz), die als alleinerziehende Mutter viel zu viele eigene Sorgen hat, um auch noch die Verantwortung für einen Fremden zu übernehmen: Als sie in einer eiskalten Winternacht von der Arbeit heimkehrt, fährt sie einen Obdachlosen (Carlo Ljubek) an, der sein Lager auf ihrem Stellplatz in der Tiefgarage aufgeschlagen hat. Sie sorgt dafür, dass der Mann ärztlich versorgt wird. Damit ist die Sache für sie erledigt, aber am nächsten Tag steht er mit seinem kleinen Hund wieder vor der Haustür.
Viele Menschen rechtfertigen die eigene Gleichgültigkeit mit der Begründung, man könne nicht allen helfen; und deshalb helfen sie keinem. Für Ira jedoch ist der obdachlose Konrad nun kein Fremder mehr, zumal sie am eigenen Leib erfährt, wie brüchig das soziale Gefüge sein kann: Sie ist in der Probezeit, ihr Vertrag wird nicht verlängert, und es wird nicht leicht sein, eine Stelle zu finden, die ihr die Zeit lässt, sich um ihren kleinen Sohn zu kümmern. Ihre Wohnung wird sie sich ohne Job nicht mehr leisten können; Exmann Bernhard (Markus Gertken) kommt selbst kaum über die Runden. Als sie eines Tages ohne Schlüssel vor ihrer Wohnungstür steht, kann Konrad ihr helfen. Sie lässt ihn ihr Bad benützen und auf dem Sofa schlafen, geht mit ihm zum Amt, besorgt ihm eine Unterkunft in einem Wohnheim. Selbst der zwischenzeitlich heftig eifersüchtige Bernhard legt seine Feindseligkeit ab und könnte Konrad sogar einen Job vermitteln. Die Handlung könnte also gradewegs auf ein gutes Ende hinsteuern; wenn da nicht der Prolog gewesen wäre.
Die Produzentin des Films, Beatrice Kramm, hat diese Geschichte zwar nicht genauso erlebt, aber sie hat dennoch einen wahren Hintergrund: Vor einigen Jahren hat ein Obdachloser auf ihrem Stellplatz Schutz gesucht. Hilfsangebote oder Kontaktversuche, sagt sie, habe der Mann abgelehnt; er wollte in Ruhe gelassen werden. Als die Temperatur auf minus 15 Grad sank, ist er erfroren. Silke Zertz, für ihr Drehbuch zu dem Zweiteiler "Wir sind das Volk – Liebe kennt keine Grenzen" (2008) mit dem Deutschen wie auch mit dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet, hat sich für die Rolle eine Biografie ausgedacht, die sehr plausibel klingt und deren Tragik großen Anteil daran hat, dass Ira ihm helfen will; aber selbst dieser Teil der Handlung endet bitter.
Regisseurin Sabine Bernardi, die fürs ZDF zuletzt unter anderem die dritte Trilogie der "Ku’damm"-Saga gedreht hat ("Ku’damm 63"), hat den Film betont sachlich inszeniert; die Geschichte spricht ohnehin für sich und funktioniert auch ohne künstliche Dramatisierung. Außerdem verzichtet sie auf jede Romantisierung von Konrads Lebensweise. Es gibt sicherlich Obdachlose, die ihr Dasein nicht als Schicksal, sondern als Freiheit empfinden, weil sie innerhalb des gewohnten gesellschaftlichen Systems keinen Platz für sich sehen, aber Zertz und Bernardi machen keinen Hehl daraus, dass Konrad eine Art Paria ist: Die Menschen sind schon allein von seinem Gestank abgestoßen. Diesen Aspekt inszeniert Bernardi jedoch eher unaufdringlich, ebenso wie das Misstrauen, dass Ira selbst dann nicht ablegt, als sie Konrad bei sich aufnimmt; dass sie ihre Schlafzimmertür abgeschlossen hat, wird eher beiläufig eingestreut.
Zur beobachtenden Haltung des Films gehört nicht zuletzt der Verzicht auf Erklärungen. Offenbar nutzt Ira ihren Gast als willkommene Ablenkung von ihren eigenen Problemen, aber diese Flucht deuten Buch und Regie allenfalls an. Im Unterschied zu vielen anderen Dramen über dieses Thema hält auch niemand ein Kurzreferat mit entsprechenden Statistiken; Buch und Regie tun alles, um zu vermeiden, sämtliche Obdachlosen über einen Kamm zu scheren. Der emotionale Schwerpunkt ist ohnehin ein ganz anderer, denn jede Zuschauerin, jeder Zuschauer wird sich unwillkürlich fragen: Wie würde ich mich an Iras Stelle verhalten?