Die Meinungen gehen auseinander. Die einen sprechen von Macht, die anderen von einer Mission. Vermutlich ist es die Mischung aus beidem, die viele Frauen dazu veranlasst, sich erst auf eine Brieffreundschaft und dann auf eine Liebesbeziehung mit Strafgefangenen einzulassen, selbst wenn es sich um Mörder und Vergewaltiger handelt (Hybristophilie im Fachjargon): Macht, weil die positive Sozialprognose der womöglich vorzeitig entlassenen Häftlinge auch mit dieser Beziehung zusammenhängt; und Mission, weil die Frauen überzeugt sind, die Männer retten und auf den rechten Weg zurückleiten zu können. Wenn die Frau dann im TV-Krimi Opfer eines Gewaltverbrechens wird, fällt der Verdacht selbstredend umgehend auf den neuen Lebensgefährten.
Bis hierher scheint sich „Der Reiz des Bösen“, der 82. „Tatort“ mit dem Kölner Gespann Ballauf und Schenk, am erwartbaren Schema zu orientieren: Auf dem Weg zur Nachtschicht wird Krankenschwester Susanne Elvan (Neshe Demir) ermordet. Der Täter (oder die Täterin) hat zwölfmal auf die Frau eingestochen. „Übertötung“, stellt Schenk routiniert fest, und fügt mit Blick auf die weniger versierten Couch-Kriminalisten hinzu, dass solche Taten auf große Wut schließen ließen.
Das Opfer war mit dem einschlägig vorbestraften Gewalttäter Tarek Elvan (Sahin Eryilmaz) liiert, den sie über das Brieffreundschaftsportal der Kölner JVA kennengelernt und noch vor seiner Entlassung geheiratet hat. Der Mann beteuert seine Unschuld und zeigt den Kommissaren ein Video, auf dem Susannes vor dem Haus randalierender Ex-Mann (Nikolaus Benda) zu sehen ist.
Tatsächlich hat Teenager-Tochter Mia (Tesha Moon Krieg) vor ihrem gewalttätigen Vater genauso viel Angst wie vor Tarek. Weil dessen Alibi platzt und er sich gewaltsam Zutritt zu dem Wohnheim verschafft hat, in dem Mia vorübergehend untergebracht ist, wird er verhaftet. Als es kurz drauf zu einem fehlgeschlagenen Überfall kommt, bei dem die Tatwaffe aus dem ersten Mord verwendet werden sollte, ist klar, dass Tarek unschuldig ist.
Das Drehbuch stammt von Arne Nolting und Jan Martin Scharf. Das vielfach ausgezeichnete Duo (Grimme-Preise für die Serien „Club der roten Bänder“ und „Weinberg“) arbeitet seit gut 20 Jahren zusammen und war unter anderem auch für die sehenswerte ARD-Reihe „Väter – Allein zu Haus“ verantwortlich. Für das Kölner Team haben die beiden zuletzt den allerdings nicht rundum gelungenen Krimi „Weiter, immer weiter“ (2018, Regie: Sebastian Ko) geschrieben: Die Geschichte war interessant, aber zu dick aufgetragen, und setzte auf einen Schlussknüller – ein Polizist litt unter Wahnvorstellungen, Teile der Handlung spielten sich nur in seinem Kopf ab –, der nicht alle Zuschauer überrascht haben dürfte.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Bei „Der Reiz des Bösen“ führte Scharf selbst Regie; der Film ist mindestens eine Klasse besser. Auch diesmal verpassen die Autoren ihrer Geschichte eine Volte, die allerdings ungleich cleverer vorbereitet ist und für einen echten Gänsehauteffekt sorgt. Wie bei „Weiter, immer weiter“ zeigt sich, dass die Autoren die ganze Zeit ein durchtriebenes Spiel mit dem Publikum geführt haben: Sie bieten einen durch und durch bösen Verbrecher als Täter an, den zudem das gleiche musikalische Leitmotiv begleitet wie den Mörder („Nothing’s Gonna Hurt You Baby“ von Cigarettes After Sex).
Besonders dankbar fürs Drehbuch wird Roland Riebeling gewesen sein. Der Westfale spielt seit 2018 den für die Hintergrund-Recherchen zuständigen Kriminaloberkommissar Jütte, eine Schnarchnase vor dem Herrn. Diesmal darf Jütte endlich aus seinem Schneckenhaus. Die Fotos der ermordeten Krankenschwester wecken verdrängte Erinnerungen: Als er noch bei der „Sitte“ in Wuppertal war, gab es einen ganz ähnlichen Fall; auch dort ist dem Opfer ein Herrengürtel um den Kopf geschlungen worden, sodass die Augen verdeckt waren.
Der damals ungleich agilere Jütte hat sich den vermeintlich geklärten Fall derart zu Herzen genommen, dass er seither unter Herzbeschwerden leidet. Als er in den Akten auf einen dritten und angeblich ebenfalls geklärten Mord nach gleicher Handschrift stößt, steht das Kölner Trio vor einem kompletten Rätsel. Neben der Raffinesse des Drehbuchs beeindruckt „Der Reiz des Bösen“ durch eine vorzügliche Bildgestaltung (Kamera: Felix Novo de Oliveira) und eine Musik (Ali N. Askin), die permanent für eine bedrohliche Atmosphäre sorgt. Die Basis dieses fesselnden Krimis aus Köln ist jedoch eine Geschichte, die immer mysteriöser wird.