Hauptverdächtiger damals wie heute: ein junger Mann, hochintelligent, aber vermutlich psychisch gestört. In beiden Fällen gibt es keinerlei Indizien, die ihn belasten könnten, zumal die Täterbeschreibungen allzu vage sind. Trotzdem hat Bessie Eykhoff (Verena Altenberger) keinen Zweifel daran, dass Jonas Borutta (Thomas Schubert) für beide Taten verantwortlich ist. Sie versucht, sein Vertrauen zu gewinnen und ihm ein Geständnis zu entlocken. Aber die Zeit wird knapp: Wenn es keine stichhaltigen Beweise gibt, die einen Haftbefehl rechtfertigen, muss die Polizei Verdächtige nach Ablauf des nächsten Tages nach ihrer Festnahme freilassen. Die Handlung setzt um 22 Uhr ein, die Frist läuft um Mitternacht ab. Weil Bessies Vorgesetzter (Christian Baumann) ihr nicht zutraut, Borutta bis dahin zu knacken, bittet er seinen Vorgänger als Leiter der Münchener Mordkommission um Unterstützung. Josef Murnauer (Michael Roll) kennt den jungen Mann, er hat in dem Mordfall vor drei Jahren ermittelt, sich aber aus privaten Gründen aus dem Dienst zurückgezogen. Bessie, ohnehin von männlichen Kollegen umgeben, ist empört, zumal die einzige Frau in der Runde, Staatsanwältin Ehrmann (Birge Schade), keine Spur von weiblicher Solidarität erkennen lässt. Der erfahrene Murnauer versucht eine ähnliche Strategie wie Bessie, aber auch er beißt sich an Borutta die Zähne aus; und die Uhr tickt unerbittlich.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Tobias Kniebes Drehbuch basiert auf der Fallbeschreibung "Wollust" aus dem Buch "Abgründe: Wenn aus Menschen Mörder werden" von Josef Wilfling, einem früheren Leiter der Münchener Mordkommission. Der Hintergrund ist authentisch, die Figuren sind jedoch fiktiv. Was nach Kammerspiel klingt, entpuppt sich jedoch als optisch ungemein reizvoller Krimi. Alles andere wäre auch eine Enttäuschung, schließlich ist "Bis Mitternacht" ein Film von Dominik Graf. Der vielfache Grimme-Preisträger steht für optische Umsetzungen, die grundsätzlich aus dem Rahmen fallen. Das gilt auch diesmal: Die Lichtsetzung (Kamera: Hendrik A. Kley) ist sehr ungewöhnlich. Da Graf die Geschichte mehr oder weniger in Echtzeit erzählt, spielt der Film von den Rückblenden abgesehen größtenteils in der Nacht. Auf diese Weise kommt die farbliche Gestaltung noch besser Geltung: Mal lenkt ein bunter Rahmen den Blick auf das Zentrum der Handlung, mal sorgen Farbinseln für eine Auflockerung der Bilder. Die immer wieder eingeblendeten Ziffern der digitalen Revieruhr, die mit ihrem Kranz aus roten Lichtpunkten unerbittlich die verrinnenden Sekunden dokumentiert, sorgt nicht nur für einen weiteren Farbtupfer, sondern erhöht auch die Spannung.
Während Graf und Kley das Herzstück der Geschichte, die erste Vernehmung durch Bessie, mit einem ungesunden Grün versehen haben, ist der Auftakt in ein sattes Orange getaucht. Die Bilder suggerieren Sonnenschein und Lebensfreude, stehen jedoch in krassem Kontrast zu Bessies Schilderungen, die aus dem Off erklingen. Sie beschreibt, wie frustrierend ihre Wahrnehmung der Welt ist: Die Frauen sehen alle so aus, als seien sie frisch verliebt; sie selbst fühlt sich dagegen klein, grau und unbeachtet. Tatsächlich spricht die Oberkommissarin gar nicht von sich selbst; sie hat sich in den Verdächtigen hineinversetzt, einen typischen "Incel", der sich schließlich mit Gewalt nimmt, was ihm seiner Ansicht nach zusteht. Das englische Kunstwort steht für "involuntary celibate", unfreiwilliges Zölibat; um dieses Phänomen ging es bereits in einem "Tatort" aus Kiel, "Borowski und die Angst der weißen Männer" (2021).
Obwohl sich die Handlung über weite Strecken im Revier zuträgt, ist der Film überraschend bilderreich. Viele kurz eingestreute Momentaufnahmen verleihen dem Krimi zudem eine sehr aufwändige Anmutung. Sehenswert ist "Bis Mitternacht" nicht zuletzt wegen der Ensembleleistung, zumal Graf auch die Nebenfiguren im Revier mit Daniel Christensen und Robert Silg sehr markant besetzt hat. Etwas unglaubwürdig ist allein der sehr gespielt wirkende Klozwist zwischen der Kommissarin und der Staatsanwältin und ihr Disput über alte weiße Männer, die wie ein Deus ex machina kurz vor dem Abpfiff eingewechselt werden, um ein Spiel noch herumzureißen. Zum Glück ist Murnauer erfahren genug, um zu erkennen, dass er den Verdächtigen nur mit Bessies Hilfe knackt.