Wenn die beliebte Hauptdarstellerin einer populären Filmreihe aussteigt, hat der Sender ein Problem. Natürlich kann man die Schauspielerin sang- und klanglos durch eine andere ersetzen, das ist schließlich schon oft genug geschehen; allerdings fühlt sich in solchen Fällen selbst der gutmütige Teil des Publikums für dumm verkauft. Anspruchsvoller und daher komplizierter, aber ungleich reizvoller ist dagegen die Einführung einer völlig neuen Figur. Zum Glück haben sich die ARD-Tochter Degeto und die Produktionsfirma UFA Fiction nach der Devise "Alles auf Anfang" für diesen Weg entschieden, und deshalb beginnt die zehnte Episode der Freitagsreihe "Die Eifelpraxis" wie die erste: Landarzt Chris Wegener (Simon Schwarz) braucht eine neue Versorgungsassistentin. "Erste Hilfe aus Berlin" hieß 2016 der Reihenauftakt, und so ist es auch diesmal: Krankenschwester Vicky Röver (Jessica Ginkel) hat einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit und deshalb gerade ihren Job als Stationsschwester in der Charité verloren. Mutter Heidelinde (Corinna Kirchhoff) wird 65, also ist Vicky samt Tochter Kim (Carlotta von Falkenhayn) in den Sommerferien nach Monschau gekommen. Die familiäre Stimmung ist allerdings längst nicht so idyllisch wie die Umgebung: Die streitbare Heidelinde hat Vicky nie verziehen, dass sie sich mit 19 aus dem Staub gemacht hat, anstatt die elterliche Apotheke zu übernehmen. Außerdem hat sie ihrer Devise "Eine Apothekerin wird nicht krank" zum Trotz erhebliche gesundheitliche Probleme. Weil Vicky nicht locker lässt, stößt sie schließlich auf die Familiengeheimnisse, denen der Film seinen Titel verdankt.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Mit großem Geschick verknüpft das Drehbuch des Autorinnenduos Sabine Glöckner und Carolin Hecht alte und neue Figuren, damit die "Eifelpraxis"-Fans nicht fremdeln müssen: Martha (Marie Anne Fliegel), die bärbeißige Mutter des Dorfpolizisten (Tom Keune), ist Heidelindes Schwester; die beiden Frauen sind allerdings wie Feuer und Wasser. Weil Vicky im Unterschied zu ihrer Vorgängerin Vera Mundt, die sich das Vertrauen der Einheimischen erst erarbeiten musste, ihre Monschauer Pappenheimer inklusive Chris seit Kindheitstagen kennt, lassen sich die Geschichten mit den Patienten ohnehin ganz anders erzählen. Zu denen zählt diesmal auch der Arzt: Neurologin Sascha Freiling (Neda Rahmanian) will den Kollegen, der seit einem Unfall querschnittgelähmt ist, dazu überreden, sich an der Studie zu einer neuartigen Behandlungsmethode zu beteiligen. Dieser Erzählstrang zieht sich durch beide neuen Episoden; Simon Schwarz ist nun ein gleichwertiger Hauptdarsteller. Im zweiten Film ("Chancen") steht zwar wieder wie gewohnt eine medizinische Herausforderung im Zentrum (Episodengäste sind Henny Reents und Alexander Beyer als Eltern eines Babys mit Gendefekt), doch bei Familie Röver kommen noch weitere Geheimnisse ans Licht.
Schauspielerisch bewegen sich die Filme auf hohem Niveau, aber der Tonfall hat sich geändert: Dank der Reibereien zwischen Chris und Vera hatten die bisherigen Episoden stets auch Anklänge an eine romantische Komödie, zumal die Versorgungsassistentin noch andere Verehrer hatte; nun dominieren dagegen die dramatischen Elemente. Und während Rückkehrerinnen in Filmen dieser Art sonst unvermeidlich als Erstes ihrer Jugendliebe über den Weg laufen, kommt der Auftakt zur neuen Ära ganz ohne Liebelei aus. Auch die Optik ist eine andere: Die Kamera (Stephan Wagner) schwelgt seltener in Landschaftsbildern und erfreut sich dafür umso mehr an der Schönheit des Städtchens. Das passt zur Handlung, denn Rückkehrerin Vicky wird klar, wie malerisch diese Perle der Eifel doch ist.
Regisseurin Uljana Havemann hat für die Degeto auch ihren ersten Langfilm gedreht: "Der Alte und die Nervensäge" (2020) war ein sympathisches Roadmovie mit Jürgen Prochnow als Supergrantler, der vor seiner überfürsorglichen Familie in die Alpen flieht. Für Qualität steht auch Carolin Hecht; sie ist unter anderem Schöpferin der "Allein unter…"-Reihe mit Hannes Jaenicke (von "Allein unter Frauen", 2007, bis "Allein unter Ärzten", 2014; alle Sat.1). Hecht und die nicht minder erfahrene Koautorin Glöckner wollten die neue Rolle jünger und moderner anlegen. Vera Mundt hat zwar auch nicht alles richtig gemacht, doch Vicky soll ausdrücklich mehr Ecken und Kanten haben – ihr Bruder (Barnabay Metschurat) bezeichnet sie mal als "Knallfrosch im System" –, was der Figur natürlich einen größeren Facettenreichtum verleiht; außerdem kann sie ähnlich stur sein wie ihre Mutter. Bleibt noch die Frage, ob die "Eifelpraxis"-Fans Jessica Ginkel als Rebecca Immanuels Nachfolgerin akzeptieren werden. Es war daher klug, nach einer ganz anderen Schauspielerin zu suchen. Bei Ginkel ist das Risiko ohnehin überschaubar: Sie war in der RTL-Erfolgsserie "Der Lehrer" (2013 bis 2019) acht Staffeln lang weit mehr als nur die Frau an der Seite von Titeldarsteller Hendrik Duryn. Zuletzt hat sie dafür gesorgt, dass die ansonsten nicht weiter der Rede werte "Inga Lindström"-Episode "Familienfest in Sommerby" (2019) keine Zeitverschwendung war.