Wenn bekannte Schauspieler erstmals Regie führen, schaut die Branche noch genauer hin als sonst. Kida Khodr Ramadan macht allerdings grundsätzlich nicht den Eindruck, als könne ihn irgendwas aus der Ruhe bringen. Dafür ist der gebürtige Libanese viel zu erfahren im Filmgeschäft, wenn auch gar nicht mal so sehr an Jahren: Sein Debüt vor der Kamera war 2003 das Drama "Alltag" über zwei Jugendliche, die ein Wettbüro überfallen. Seither hat der 44-jährige Berliner über hundert Rollen gespielt, meist Ganoven oder Clan-Mitglieder, oft abgebrüht und hartgesotten, aber noch öfter mit großem Herzen; als Hauptdarsteller der Serie "4Blocks" hat er 2018 den Deutschen Fernsehpreis als bester Schauspieler und den Grimme-Preis bekommen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Nabil Ibrahim, die zentrale Figur seines Regiedebüts "In Berlin wächst kein Orangenbaum", ist auch so eine typische Ramadan-Rolle. Den Mann als wortkarg zu bezeichnen, wäre eine glatte Untertreibung; bis zum Ende des ersten Filmakts verzieht Nabil keine Miene und sagt kein einziges Wort. Sein Schicksal ist ohnehin besiegelt: Er hat ein Drittel seines Lebens als Polizistenmörder im Knast verbracht. Die Tat hat zwar sein damaliger Komplize begangen, aber Nabil hat all’ die Jahre dichtgehalten; eine Frage der Ehre. Nun ist er unheilbar krank; der Staat hat ein Erbarmen und lässt ihn in Freiheit sterben. Nabil will die Chance nutzen und sein Leben in Ordnung bringen: Ivo (Stipe Erçeg) schuldet ihm noch den Anteil vom gemeinsamen Überfall; das Geld will er seiner damaligen Freundin (Anna Schudt als früh verblühte Plattenbaupflanze) schenken. Bei seinem Besuch stellt sich raus, dass er Vater einer mittlerweile fast 18 Jahre alten Tochter ist; und plötzlich bekommt sein verkorkstes Dasein dank Juju einen überraschenden Sinn.
Der Film erfreut durch diverse Gastauftritte von Freunden und Kollegen Ramadans, allen voran Frederick Lau als gemobbter Mitinsasse, dem Nabil gegen seine Peiniger hilft, oder Tom Schilling als Pflichtverteidiger, der ihn hartnäckig Abraham nennt. Ramadan selbst ist ohnehin glaubwürdig wie stets. Unbedingt sehenswert ist "In Berlin wächst kein Orangenbaum" jedoch wegen Emma Drogunova. Die in Russland geborene Berlinerin, ganz famos als gleichermaßen kesse wie attraktive Freundin des Titelhelden im Kinofilm "Der Trafikant" (2018) und ein höchst belebendes Element in einigen der letzten "Wilsberg"-Krimis (als vermeintliche Tochter von Kommissar Overbeck), entwickelt mehr und mehr den Status einer Schauspielerin, deren Mitwirkung allein bereits ein Einschaltgrund ist. Hier ist sie nicht bloß eine perfekte Ergänzung für den Hauptdarsteller. Ramadan beweist in seinem eigenen Film wahre Größe, indem er die gemeinsamen Szenen souverän der jungen Kollegin überlässt; die besseren Dialogzeilen hat sie ohnehin. Weil Juju die brandenburgische Provinz satt hat, fahren die beiden nach Berlin, wo sie ein libanesischer Onkel Nabils im Hinterzimmer seines Ladens schlafen lässt. Juju hat auf ihren Vater die Wirkung eines Jungbrunnens: Je mehr Zeit die beiden miteinander verbringen, desto mehr kehrt das Leben in seinen dem Tode geweihten Körper zurück. Trotzdem will Nabil immer noch sein Geld. Ivo, mittlerweile Betreiber eines offenbar schwunghaften Import/Export-Handels, würde ihm seinen Anteil ja auszahlen, doch er wird von der Polizei observiert; ausgerechnet Juju soll die Kohlen nun aus dem Feuer holen.
Ramadan hatte nicht nur die Idee zu der Geschichte, er hat auch gemeinsam mit Juri Sternburg das Drehbuch geschrieben. Die Handlung ist eine gerade zu Beginn auch dank der Musik (Michael Beckmann, Tom Stöwer) mit viel Melancholie erzählte Mischung aus Gangster-Kino und Vater/Tochter-Tragikomödie. Als Vater und Tochter in Berlin sind, wandelt sich der Tonfall jedoch: Plötzlich strotzt das bis dahin fast morbide Drama vor Energie und Lebensfreude; die musikalische Untermalung wird ebenfalls deutlich schwungvoller. Sehenswert ist auch die optische Umsetzung durch den ohnehin vortrefflichen Kameramann Ngo The Chau: Die Knastbilder wirken, als liege ein Schleier über dem Film, aber mit zunehmender Spielzeit verzieht sich der Nebel. Der Titel bezieht sich auf eine Erkenntnis der einstigen Freunde Nabil und Ivo: Die beiden haben als Kinder Apfelsinen geklaut. Ivo will die Schale vergraben, damit ein Orangenbaum draus wird, aber Nabil sagt ihm, dass es dafür in Berlin zu kalt sei; der Satz ist mehrmals zu hören und dürfte sich nicht nur auf das ungünstige Klima für Orangenbäume beziehen.