Schon allein die Grundidee von "3 ½ Stunden" ist ebenso originell wie auf Anhieb überzeugend: An einem sommerlichen Sonntag setzt sich am Münchener Hauptbahnhof ein Fernzug nach Berlin in Bewegung. An Bord sind die unterschiedlichsten Menschen: ein Mann und eine Frau auf dem Weg zur Hochzeit, eine vierköpfige Familie, ein altes Ehepaar, eine vermeintliche Mutter mit Kind, eine vierköpfige Musikergruppe, ein Kriminalkommissar. Es wird eine Reise, die keiner der Beteiligten je vergessen wird, denn die Geschichte spielt am 13. August 1961, der als Tag des Mauerbaus in die deutsch-deutsche Geschichte eingegangen ist. Die Reisenden sind auf dem Weg in die heimische DDR. Als sich dank eines Transistorradios im Zug die Kunde von den sogenannten grenzsichernden Maßnahmen verbreitet, haben sie dreieinhalb Stunden Zeit, um eine Entscheidung zu treffen, die ihr Leben verändern wird: Ausstieg in die Freiheit oder Rückkehr in die Heimat, die fortan zumindest aus westlicher Perspektive einem Gefängnis gleichen wird? Die Diskussion entzweit Freunde, Paare und die Familie.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Das Drehbuch stammt von Robert Krause, dessen Großeltern an jenem Tag ebenfalls in einem Zug von West nach Ost saßen, und Beate Fraunholz. Er ist Ostdeutscher und war unter anderem Koautor von "Unsere wunderbaren Jahre" (ARD 2020). Der dreiteilige Fernsehfilm nach dem Wirtschaftswunderroman von Peter Prange erzählte eine epische Geschichte von Liebe, Schmerz, Rache und Verrat; das sind exakt auch die Zutaten zu "3 ½ Stunden". Koautorin Fraunholz ist Westdeutsche und hat überwiegend Sonntagsfilme im ZDF geschrieben; auch das passt, denn einige Ebenen sind gleichermaßen romantisch wie melodramatisch. Die größte Herausforderung für das Drehbuchduo und Regisseur Ed Herzog bestand vermutlich darin, die komplexe Handlung in den Rahmen eines Neunzigminüters zu quetschen, ohne die einzelnen Stränge allzu sehr zu verknappen, was angesichts eines guten Dutzends Hauptfiguren gar nicht so leicht gewesen sein dürfte. Trotzdem ist es gelungen, die handelnden Personen nicht auf Klischees zu reduzieren.
Das womöglich noch respektablere Kunststück hat Herzog jedoch beim Schnitt (Simon Blasi) vollbracht: Bei derart vielen Protagonisten ist die Gefahr groß, dass der Film von einer Ebene zur nächsten hüpft, ohne einen echten Handlungsfluss herzustellen. Dank der Einheit von Zeit und Raum konnte Herzog die elegante Verknüpfung der einzelnen Stränge Ngo The Chau überlassen, dessen Kamera von einem Fahrgast zum anderen wandert. Das beginnt schon auf dem Bahnsteig mit der aufwändig gestalteten Einführung einiger Figuren. Die Aufnahmen sind zudem in ein Licht getaucht, das von Beginn an ein für historische Produktionen dieser Art typisches Zeitgefühl vermittelt.
Ein weiteres Qualitätsmerkmal dieses Films, der gern auch 120 Minuten hätte dauern dürfen, ist die Auswahl der Mitwirkenden. Der einzige Star, Uwe Kockisch, spielt nur eine Gastrolle als für die Überwachung der Grenzschließung zuständiger Volkspolizist; die Bauarbeiten finden unter anderem direkt vor seinem Bürofenster statt. Viele andere Rollen sind mit bekannten und bewährten TV-Schauspielern besetzt, allen voran Martin Feifel als Kommissar, Jördis Triebel als Trainerin einer kindhaften Turnerin, Peter Schneider als Mann, der eine alte Schuld mit sich herumträgt, sowie Susanne Bormann und Jan Krauter als Elternpaar mit gänzlich unterschiedlichen Erwartungen ans Leben. Für die darstellerischen Überraschungen sorgen jedoch andere. Eine echte Entdeckung fürs breite Publikum ist beispielsweise Alli Neumann (eine der beiden Protagonistinnen aus "Wach") als Sängerin der Band, die ihre eigenen und eigens für den Film geschriebenen Lieder vorträgt. Nicht minder sehenswert ist Luisa-Céline Gaffron, die ihr Können allerdings schon in mehreren Krimis unter Beweis gestellt, allen voran als Darstellerin der weiblichen Titelfigur in der "Nord bei Nordwest"-Episode "Conny & Maik". In "3 ½ Stunden" verkörpert sie eine ostdeutsche Lokomotivführerin, die den Zug an der Grenze mit ihrer Dampflok übernehmen wird. Ein junger Defa-Reporter (Vincent Redetzki) soll einen Film über die junge Frau drehen und verliebt sich prompt in ihr sonniges Gemüt.
Bis auf ein paar kleine Momente, als einige Mitwirkende allzu vielsagende Blicke aufsetzen, ist Herzogs Arbeit mit dem Ensemble vorzüglich. Für den Regisseur ist "3 ½ Stunden" ein eher ungewöhnlicher Stoff: Nach diversen meist sehenswerten TV-Krimis hat er sein berufliches Dasein zuletzt den heiteren Eberhofer-Krimis mit Sebastian Bezzel gewidmet; die siebte Episode, "Kaiserschmarrndrama", läuft aktuell im Kino. Die Dreharbeiten fanden größtenteils in der Gleishalle des Deutschen Dampflokmuseums (Neuenmarkt, Bayern) statt. Dass die Kamera im Zug gegen Ende die erst deutlich später angebrachten "modernen" Türgriffe einfängt, ist Künstlerpech. Dass Herzog seinen Schauspielerin Modernismen wie "alles gut" oder "gern" (statt bitteschön) durchgehen ließ, mag eine Petitesse sein, fällt aber angesichts der sonstigen Sorgfalt umso stärker auf. Im Anschluss stellt der Dokumentarfilm "Wir Kinder der Mauer" (21.50 Uhr) Menschen vor, in deren Leben die Teilung der beiden deutschen Staaten tiefe Spuren hinterlassen hat.