Den Rest, immer noch eine stattliche sechsstellige Summe, teilt sie unter Rita (Ulrike C. Tscharre), Phillipp (Stefan Konarske) und Doro (Jördis Triebel) auf, verbunden mit der Aufforderung, das Elternhaus auf Nimmerwiedersehen zu verlassen: Sie will nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Die Kinder sind natürlich schockiert, aber Carla lässt sich nicht umstimmen; sie hat keine Lust, sich bis zum Lebensende für den Nachwuchs verantwortlich zu fühlen.
Später sagt die Mutter noch einen Satz, der richtig weh tut. Sie liebt ihre Kinder zwar, aber sie mag sie nicht, und das ist ein Problem, allerdings vor allem für den Film: Es gibt keine Figur, für die sich das Herz erwärmen könnte. Rita, Phillipp und Doro sind viel zu ichbezogen, um Sympathien wecken zu können. Außerdem stecken sie durch Carlas Einschätzungen bei ihrer Ankunft von Anfang an in bestimmten Schubladen. Vermutlich hat es dem Ensemble Spaß gemacht, die Rollen über gewisse Grenzen zu treiben, aber das hat zur Folge, dass sie im Zusammenspiel mit entsprechenden Klischees wie typische Filmcharaktere wirken. Auf diese Weise wird gerade der Sohn zu einer eindimensionalen Figur, zumal Stefan Konarske recht bühnenhaft agiert: Phillipp ist ein Broker, der selbstverständlich Kokain schnupft, und offenbar beziehungsunfähig, weil auch sein Vater nicht in der Lage war, seiner Frau treu zu bleiben. Rita, die älteste, wollte der Mutter zuliebe immer perfekt sein, aber schließlich stellt sich raus, dass sie bloß noch eine Fassade aufrecht erhält. Yoga-Lehrerin Doro ist vom Drehbuchtrio – Freya Stewart, Ferdinand Arthuber sowie Produzentin Gabriela Sperl – mit allerlei Hippie-Attitüden versehen worden und mit einer Frau (Britta Hammelstein) geschlagen, die alles und jeden zu analysieren versucht. Für Carla und ihre Bedürfnisse hat sich das Trio nie interessiert, wie eine Rückblende aufs letzte Geburtstagsfest offenbart, als die Kinder ihr Geschenke machen, mit denen sie gar nichts anfangen kann. Einzig Doros Tochter Josephine (Lena Urzendowsky) ist der Großmutter wirklich zugetan.
Das hätte trotzdem eine bissige Komödie werden können, zumal immerhin Rainer Kaufmann die Regie übernommen hat, doch nach dem Rauswurf des Nachwuchses ist die Geschichte im Grunde auserzählt; aber im Film ist gerade erst Halbzeit, weshalb sich "Mutter kündigt" in der zweiten Hälfte streckenweise zum Musical wandelt. Immerhin kann Rainer Bock auf diese Weise eine bislang kaum bekannte Seite offenbaren: Rudi ist der "Hausfreund" und Anwalt der Familie; Rita ist überzeugt, dass er ihr Erzeuger sei, obwohl ihn alle für homosexuell halten; der verstorbene Vater hat ihn daher auch nie als Nebenbuhler betrachtet. Carla führt Josephine in ein Varieté, in dem Rudi zur großen Verblüffung der jungen Frau einen eindrucksvollen Travestieauftritt hinlegt. Später folgt noch ein Duett mit Carla, und diese beiden Lieder sind so famos gesungen, dass sich allein ihretwegen auch die zweite Hälfte lohnt.
Davon abgesehen tritt der Film jedoch auf der Stelle, weil das Drehbuch deutliche dramaturgische Schwächen hat. Es nimmt sich zum Beispiel viel zu viel Zeit, um das gute Verhältnis zwischen Großmutter und Enkelin zu zelebrieren, obwohl die Seelenverwandtschaft längst offenkundig ist. Eine Strandszene, in der die beiden zu Nina Hagens Klassiker "Unbeschreiblich weiblich" tanzen, wirkt zudem ausgesprochen inszeniert. Größeres Manko ist jedoch der Abschied der Handlung vom eigentlichen Thema. Nach dem Rauswurf treffen sich die Geschwister in einer Hotelbar, wo ihnen der Alkohol die Zunge lockert und allerlei unbequeme Wahrheiten und Geheimnisse auf den Tresen kommen; das gehört ebenso zum obligaten Muster solcher Geschichten wie das Finale, als die Sorge um die ungewollt schwangere Josephine, die genervt das Weite gesucht hat, die Familie wieder zusammenführt.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Letztlich hat das Drehbuch also außer den für familiäre Tragikomödien dieser Art üblichen gegenseitigen Vorwürfen nicht mehr zu bieten als das Titelthema, das Redaktion und Produktion gern zum Tabu stilisieren möchten: weil nur die wenigsten Mütter zugeben würden, dass sie ihrer Kinder überdrüssig sind. Allerdings ist der Film auch in dieser Hinsicht inkonsequent, denn in den Erzählungen wird deutlich, dass Kostümbildnerin Carla offenbar noch nie dem Stereotyp des Heimchens am Herd entsprochen hat. Einige Monologe muten sehr theatralisch an, andere Szenen sind dagegen gerade darstellerisch sehr sehenswert, etwa eine Aussprache zwischen Rita und ihrem vermeintlichen Vater. Carlas Alpträume vom Ehemann, einem berühmten Theaterintendanten, sind zudem ziemlich verstörend; eine Gastrolle wie für Ulrich Tukur geschaffen. Demgegenüber stehen unglaubwürdige Szenen wie jene, als Carla mit dem Gewehr ein Loch in die Decke schießt, damit die Kinder endlich kapieren, dass sie es ernst meint.