Er erkannte, dass winzige Änderungen in seinem Prognosemodell zu unvorhersehbaren Konsequenzen führten, und prägte eine Formel, die auf sämtliche komplexen Systeme angewendet werden kann: "Kleinste Ursachen können größte Wirkung haben." Gut zehn Jahre später wandelte er die Erkenntnis in eine rhetorische Frage um, die als Metapher der Chaosforschung weltberühmt werden sollte: Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien in Texas einen Tornado auslösen? In seinem gleichermaßen anspruchsvollen wie faszinierenden Dokumentarfilm überträgt Rupert Russell, Sohn des durch exzentrische Werke wie "Tommy" oder "Lisztomania" bekannt gewordenen britischen Regisseurs Ken Russell, die Chaos-Theorie auf die Weltwirtschaft. Der Filmemacher hat die großen Krisen der letzten zehn Jahre analysiert und rausgefunden, dass sie stets nach dem gleichen Muster verlaufen sind: Am Anfang standen überhöhte Preise für Güter, die den menschlichen Alltag prägen, also beispielsweise Lebensmittel wie Weizen, Mais oder Reis, Wohnraum und Rohstoffe wie Öl und Kaffee.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Zwei Jahre lang hat Russell die betroffenen Weltregionen bereist; er war im Irak, auf der Krim, in Kenia, auf Lesbos und in Südamerika. Die Rückverfolgung zum ursprünglichen Auslöser der jeweiligen Krisen führte allerdings immer wieder an denselben Ort: New York. Genauer gesagt: die Wall Street. Russells Erkenntnis deckt sich mit Lorenz’ Metapher vom Flügelschlag des Schmetterlings: Wenn in New York mehr Ware gehandelt wird, als der Weltmarkt zu bieten hat, steigen zwangsläufig die Preise. Es entsteht eine Welle, die durch die globale Wirtschaft brandet und eine Woge unvorhersehbarer Ereignisse anstößt. Die Kausalkette ist ebenso einleuchtend wie erschreckend: Weil 2010 aufgrund von Börsenspekulationen die Preise für Lebensmittel in die Höhe schießen, kommt es in mehreren arabischen Staaten zu Revolten, die schließlich in Bürgerkriege münden; daraufhin flüchten Millionen Menschen nach Europa, was zu einem kontinentalen Rechtsruck führt, Brexit inklusive. Als Libyen und Irak im Chaos versinken, die Terroristen des sogenannten Islamischen Staats die Erdölproduktion bedrohen und daraufhin die Ölpreise steigen, annektiert Russland die Krim mit ihren großen Erdöl- und Erdgasvorkommen. Ein Dominostein lässt den nächsten kippen; auf diese Weise hängt alles mit allem zusammen.
"Boom und Crash – Wie Spekulation ins Chaos führt", im Auftrag von SWR und Arte entstanden, ist der perfekte Lehrfilm für angehende Wirtschafts- und Volkswirtschaftswissenschaftler, weil Russell unter anderem erklärt, warum es Fluch und Segen zugleich ist, wenn der Wohlstand eines Landes auf nur einer Ressource beruht. Davon profitieren letztlich nur die Machthaber und die Rüstungsindustrie. Abgerundet wird die besondere Qualität des Films durch die kluge Auswahl der allerdings fast ausschließlich männlichen Gesprächspartner, darunter neben Männern aus der Forschung auch diverse Hedgefonds-Manager. Sie sind für das große Ganze zuständig, für den theoretischen Überbau. Anschließend zeigt der Dokumentarfilmer, welche Folgen es hat, wenn zum Beispiel aufgrund von Börsenspekulationen der Preis für Kaffee fällt: Die Bauern aus Guatemala, ohnehin Opfer der veränderten klimatischen Bedingungen, können ihre Familien nicht mehr ernähren und machen sich auf ins gelobte Land USA, wo Donald Trump die Migration prompt für seine populistischen Zwecke missbraucht.
Mit etwas mehr Filmzeit hätte Russell, der bei der Bebilderung seiner Ausführungen immer wieder für Überraschungen sorgt, die Wall Street vermutlich auch für den Klimawandel verantwortlich gemacht; die meteorologische Entwicklung hat zwangsläufig eine Destabilisierung der weltweiten Versorgung mit Lebensmittel zur Folge. Er beschränkt er sich jedoch darauf, die Zustände in Kenia als Beispiel für eine Entwicklung zu schildern, die sich in den kommenden Jahrzehnten verschärfen wird: Grund und Boden können die Familien nicht mehr ernähren, weil es hier zu viel und dort zu wenig regnet; also suchen sie ihr Glück in den Städten. Insgesamt, so die Prognose, werden 2,5 Milliarden Menschen ihre Heimat verlassen. Die Landflucht wird zur Folge haben, dass die Metropolen aus den Nähten platzen; an ihren Peripherien werden riesige Slums entstehen. Für solche Details interessiert sich die Wall Street selbstredend nicht. Den Spekulanten ist es egal, ob ihretwegen Menschen hungern müssen, zumal der eigentliche Handel mittlerweile längst von Algorithmen durchgeführt wird. Einzig die Politik kann dem Treiben ein Ende setzen: indem sie das Spekulieren mit Lebensmitteln und Rohstoffen verbietet.