Am interessantesten ist letztlich die Informationspolitik, denn Probleme wurden konsequent totgeschwiegen; Atomkraft galt in der DDR wie auch in der BRD als Lösung aller Energieprobleme. 1967 ging in Brandenburg das erste Kernkraftwerk ans Netz; damit war der Osten sogar ein paar Monate schneller als der Klassenfeind im Westen. Das Atomzeitalter hatte allerdings bereits zwanzig Jahre zuvor begonnen, weil sich die Sowjetunion schon früh nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit Uran aus dem Erzgebirge beliefern ließ; es galt, den Vorsprung der USA bei der Produktion von Atombomben aufzuholen. Das Erzgebirge entwickelte sich zum viertgrößten Uranabbaugebiet der Welt.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Für die Bergleute war das ein Himmelfahrtskommando, Tausende wurden krank, viele starben. Die restliche Bevölkerung war ebenfalls betroffen, denn auch der Abraum war radioaktiv verstrahlt. Über das Ausmaß der Belastung wurden die Menschen nie informiert, Schlagzeilen über Krebstote gab es nur im Westen. Dass es gelungen ist, das mittlerweile mit Aue fusionierte Schlema trotzdem wieder zum Kurort zu machen, grenzt an ein Wunder, das allerdings auch seinen Preis hatte; allein die Entsorgung des Uran-Abraums kostete sechs Milliarden Euro. Sünde Nummer zwei spielte sich 1975 im Kraftwerk Lubmin ab, das kurz vor einem größten anzunehmendem Unfall stand: ein Kurzschluss, ein Kabelbrand, eine Schnellabschaltung in letzter Sekunde; der Vorfall wurde selbstverständlich unter den Teppich gekehrt. Dass die Katastrophe in Tschernobyl im April 1986 zur kleinen Havarie verniedlicht wurde und dem SED-Zentralorgan "Neues Deutschland" bloß eine nicht mal zehn Zeilen lange Randnotiz wert war, versteht sich fast von selbst. Linientreue Wissenschaftler bezeichneten die Berichte des Westfernsehens als "antisowjetische Propaganda".
Sehenswert ist die Dokumentation vor allem wegen jener Zeitzeugen, die bereits zu DDR-Zeiten prominent waren. Am spannendsten sind daher zwei "Störfälle" ganz anderer Art: Wer in der Bundesrepublik aufgewachsen ist und seine Jugend in den Siebzigern und Achtzigern verbracht hat, erinnert sich noch gut an die Bilder von Demonstrationen in Brokdorf, Wackersdorf und Gorleben; von der gewaltigen Friedenskundgebung 1981 im Bonner Hofgarten ganz zu schweigen. Auch in der DDR gab es eine Protestkultur. Unter dem Dach der Kirchen entwickelte sich eine Bewegung gegen die Atomkraft. Einer ihrer führenden Köpfe war der Physiker und Bürgerrechtler Sebastian Pflugbeil, der nach der Katastrophe von Tschernobyl Mitautor einer vom Bund der Evangelischen Kirchen initiierten Studie über Probleme der Kernenergiepolitik war und später sogar Minister in der letzten ostdeutschen Regierung wurde.
Im Westen ungleich bekannter war jedoch das Engagement der Friedensbewegung, deren Motto "Schwerter zu Pflugscharen" sogar jenseits der Grenze übernommen wurde. "Erfunden" hat es Harald Bretschneider. Der Protestant war 1980 sächsischer Jugendpfarrer und suchte angesichts des atomaren Wettrüstens nach einem universellen Symbol, mit dem er seine Hoffnung auf die Bewahrung der Schöpfung zum Ausdruck bringen konnte. Ausgerechnet der große Bruder im Osten stand Pate für den Slogan. 1958 hatte die Sowjetunion der Uno eine Skulptur geschenkt, die sich auf das Bibelzitat des Propheten Micha bezog: "Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Kein Volk wird gegen das andere das Schwert erheben, und sie werden fortan nicht mehr lernen, Krieg zu führen." Weil Bretschneider klar war, dass er für das entsprechende Bild in Verbindung mit der Parole keine Druckgenehmigung bekommen würde, ließ er es auf Stoff vervielfältigen. Natürlich wollte die Stasi die Bewegung im Keim ersticken; Bretschneider ist bis heute überzeugt, dass er Opfer eines Mordversuchs werden sollte, als er mit seinem Auto beinahe in einen vor ihm auf die Straße gestürzten angesägten Baum krachte. Andere Zeitzeugen, die zudem auch beim Umweltschutz aktiv waren, erinnern sich ebenfalls an Repressalien. Einer erzählt, er sei vor die Wahl gestellt worden: Wenn er den Aufnäher mit dem Symbol nicht von seiner Jacke entferne, könne er seine Lehrstelle vergessen. Am Ende hatte die Bewegung den längeren Atem: Kurz vor dem Ende der DDR wurde das Recht auf Wehrdienstverweigerung eingeführt. Der Kampf, mahnt Bretschneider, sei jedoch noch nicht vorbei: Dreißig Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges nähmen die atomaren Bedrohungen wieder zu.
Auch und gerade in solchen Bezügen zur Gegenwart liegt eine Stärke der Dokumentation. Die Frage nach einer sicheren Endlagerung, natürlich auch zu DDR-Zeiten ein großes Thema, ist nach wie vor nicht beantwortet. Eindrucksvoll sind vor allem die Gespräche mit Klaus Töpfer. Er war von 1987 bis 1994 Umweltminister; zeitgenössische Aufnahmen zeigen ihn nach der Wende beim Besuch der verschiedenen Einrichtungen. Mittlerweile ist Töpfer 82 alt, aber immer noch ein unermüdlicher Mahner.