TV-Tipps: "Polizeiruf 110: An der Saale hellem Strande"

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TV-Tipps: "Polizeiruf 110: An der Saale hellem Strande"
30. Mai, ARD, 20.15 Uhr
Zum 50-jährigen Jubiläum der ostdeutschen Krimiserie suchen die Kommissare Koitzsch und Lehmann nach Zeugen für einen Messermord. Daraus entwickelt sich ein komplexes Spiel mit verschiedenen Zeitebenen.

Es gibt Schauspieler, die das Gefühl vermitteln, sie spielten gar nicht. Im klassischen Hollywood hat Robert Mitchum diese Kunst zur Perfektion gebracht: Wo sich Kollegen komplizierter Methoden bedienten, um in den Tiefen ihrer Persönlichkeit nach den Facetten einer Rolle zu suchen, schien bei ihm die bloße Präsenz zu genügen. Peter Kurth, die deutsche Antwort auf Mitchum, gehört zudem zu jenen Männern, die offenbar erst ein gewisses Alter erreichen mussten, um ihre ganze Kamerawirkung zu entfalten; im Grunde hat ihn erst "Babylon Berlin" zum Star gemacht. Nicht minder grandios war er allerdings schon zuvor in zwei Filmen von Thomas Stuber: als Ex-Boxer in "Herbert" (2016), einst "der Stolz von Leipzig", sowie als väterlicher Freund der Hauptfigur in dem tiefenentspannten Drama "In den Gängen" (2018).

Beide Drehbücher hat der Regisseur, der zuletzt die in jeder Hinsicht düstere Sky-Serie "Hausen" gedreht hat, gemeinsam mit Clemens Meyer geschrieben; für "In den Gängen" sind die beiden 2015 mit dem Deutschen Drehbuchpreis ausgezeichnet worden. Es war daher eine ausgezeichnete Entscheidung, dem Duo den Entwurf des neuen "Polizeiruf" aus Halle anzuvertrauen; ein Spezialauftrag, weil der MDR mit diesem Film auch das fünfzigjährige Jubiläum des ostdeutschen Klassikers feiert. "An der Saale hellem Strande", eine Produktion von Filmpool Fiction, die auch den  "Polizeiruf" aus Rostock herstellt, ist in der Tat ein ganz besonderer und auf beiläufige Art mitunter sogar witziger Krimi geworden.

Die Kommissare Koitzsch (Kurth) und Lehmann (Peter Schneider) suchen nach Zeugen eines vor drei Monaten begangenen Verbrechens: Ein Mann ist vor der eigenen Haustür mit drei Messerstichen ermordet worden. Dank der Funkzellenauswertung weiß die Polizei, wer sich zur Tatzeit in der Nähe aufgehalten hat, und nun findet sich allerlei Strandgut des Lebens auf dem Revier ein. Einige kommen nur einen Satz lang zu Wort, mit anderen beschäftigen sich die beiden Ermittler ausführlich. Auf diese Weise ergeben sich mehrere Alltagsepisoden mit jeweils eigenen Hauptdarstellern. Da ist zum Beispiel ein Vater (Till Wonka), der damals ausgerastet ist, weil er seiner Tochter kein Geschenk besorgen konnte; oder ein alter Herr (Hermann Beyer), der früher Spätschicht im Stellwerk hatte und heute noch gern nachts zu seinem längst stillgelegten Arbeitsplatz wandert. Eine gutgelaunte Kollegin (Cordelia Wege) des Opfers macht Lehmann ganz wuschig mit ihrer geballten Erotik. Als sie dann auch noch gemeinsam mit Koitzsch das Titellied anstimmt, schaut er drein, als wähne er sich im falschen Film. Am Ende landen die Ermittler bei drei ebenso trinkfreudigen wie verkrachten Existenzen, und unversehens stellt sich raus, dass es noch einen zweiten Toten gegeben hat; aber bei der Aufklärung des Mordes kommen die Kommissare trotzdem nicht weiter.

Was wie ein Kammerspiel klingt, entpuppt sich als clever verschachteltes Spiel mit verschiedenen Zeitebenen. Dank der Rückblenden, die die Aussagen der Zeuginnen und Zeugen illustrieren, kehrt die Handlung regelmäßig zu jener Nacht zurück. Weil die Lampe über der Haustür geflackert hat, lassen sich Ort und Zeit unmittelbar identifizieren. Für zusätzlichen Reiz sorgt die Idee, die Ereignisse aus immer wieder anderen Blickwinkeln zu zeigen, was prompt für Wiedererkennungseffekte sorgt, wenn im Hintergrund zum Beispiel der frustrierte Vater zu sehen ist. Neben der geschickten Dramaturgie liegt die große Qualität des Films jedoch in der Arbeit mit dem Ensemble. Weil Stuber darauf verzichtet hat, eine namhafte Persönlichkeit als typischen Verdächtigen zu besetzen, bleibt völlig offen, wer die Tat auf dem Gewissen haben könnte. Ähnlich bemerkenswert ist die Bildgestaltung (Nikolai von Graevenitz), zumal Stuber offenbar ein klares visuelles Konzept hatte. Einige Szenen sind betont unbunt und in ein spezielles Licht getaucht. Die Aufnahmen aus Koitzschs Wohnung zum Beispiel verbreiten das Gegenteil von Behaglichkeit: Der geschiedene Kriminalhauptkommissar verbringt nicht nur die Mittagspausen, sondern auch die Abende lieber in seiner Stammkneipe, dem "Heidekrug". Irgendwann fragt Lehmann, ob sie mittags nicht mal asiatisch essen könnten; keine Chance.

Die Kombination der beiden Hauptdarsteller, die das Erbe von Jaecki Schwarz und Wolfgang Winkler (1996 bis 2013) als Ermittler aus Halle antreten, ist ohnehin interessant, zumal ihre Rollen unterschiedlich temperiert sind: hier der fast immer stoisch in sich ruhende und deutlich ältere Koitzsch, dort der jüngere Lehmann, dem auch mal der Kragen platzt. Im Gegensatz zum Kollegen hat der in Leipzig lebende Lehmann nicht nur Frau und Kinder, sondern auch einen Schwiegervater: Nach gut 25 Jahren darf Andreas Schmidt-Schaller noch mal in die Rolle des längst pensionierten und einst als "Schimanski des Ostens" gefeierten Oberleutnants und späteren Oberkommissars Thomas Grawe zu schlüpfen, den er 1986 bis 1995 in 32 "Polizeiruf"-Folgen verkörpert hat; das ist eine ebenso sympathische Idee wie der Einfall, die einzelnen Kapitel des Films nach Titeln früherer DFF-Episoden zu benennen ("Der Teufel hat den Schnaps gemacht"). Dass Stuber (Leipzig), Meyer (geboren in Halle, aufgewachsen in Leipzig), Schneider (Leipzig) und Kurth (Bezirk Schwerin) allesamt eine ostdeutsche Vergangenheit haben, hat sicherlich ebenfalls zur Authentizität des Films beigetragen; und so ist "An der Saale hellem Strande" ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, dass auch ergebnislose Ermittlungsarbeit fesselnde Krimikunst sein kann. Um 23.35 Uhr zeigt die ARD eine Dokumentation über die fünfzigjährige Geschichte des "Polizeiruf".