Die Eröffnung mit einem Kameraflug übers Wasser bleibt das einzige bildsprachliche Klischee des ganz vorzüglich fotografierten ersten "Masuren-Krimis". Regisseur Anno Saul hat zudem dafür gesorgt, dass sich sein Kameramann Martin L. Ludwig in die Masurische Seenplatte verliebt; viele Aufnahmen sind bildgewordene Gedichte. Die Geschichte ist allerdings auch ziemlich gut. "Fryderyks Erbe" beginnt mit einem Prolog: Ein Mann ertrinkt in einem See. Seine Leiche wird zwar nicht gefunden, aber er hat einen Abschiedsbrief hinterlassen. Seine Nichte Viktoria (Claudia Eisinger) kehrt aus Berlin in ihre alte Heimat zurück, um die Formalitäten zu erledigen. Schon ihre erste Szene zeigt, dass die Frau gern für sich ist: Sie hat das komplette Zugabteil reserviert. Als sie am Fuß der Kellertreppe des Hauses, in dem sie ihre Kindheit verbracht hat, eine Leiche entdeckt, steckt sie unversehens mitten in einem Mordfall. Die Kriminaltechnikerin hat nicht nur einen scharfen Blick für Details, sondern auch eine untrügliche Spürnase: Dass sie einen Einbrecher nur von hinten gesehen hat, macht gar nichts, denn sie hat seinen Geruch gespeichert. Viktoria ist auch sonst ein bisschen speziell, was den Umgang mit ihr nicht immer leicht macht, wie Leon Pawlak (Sebastian Hülk) bald erkennen muss; der Kleinstadtpolizist ist auch ihr nächster Nachbar. Er findet die Kollegin ziemlich sympathisch, selbst wenn sie ihn bei der ersten Begegnung, als er nach dem Rechten sehen wollte, kurzerhand überrumpelt und entwaffnet hat.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Der Kriminalfall an sich ist nicht weiter ungewöhnlich: Der Tote war ein Investor, der in dem Ort zur Freude der einen und zum Ärger der anderen eine pompöse Hotel- und Golfanlage errichten wollte; das Anwesen der Jankowskys fehlte ihm noch in seiner Grundstücksammlung. Dieses Handlungsmuster taucht in Provinzkrimis immer wieder auf, von den Heimatdramen ganz zu schweigen. Was "Fryderyks Erbe" sehenswert macht, ist vor allem die äußerst sorgfältig gestaltete Verpackung, zumal sich die Geschichte schließlich in eine gänzlich unerwartete Richtung entwickelt. Claudia Eisinger ist jederzeit glaubwürdig als verwitwete Wissenschaftlerin, die auf ihrem Fachgebiet zwar eine Koryphäe ist, im Umgang mit anderen aber wenig Wert auf Konventionen legt. Sebastian Hülk, sonst oft gern als Schurke besetzt, darf hier endlich mal seine sympathischen Seiten ausleben. Außerdem mischt noch Pawlaks geschiedene Frau mit: Zofia (Karolina Lodyga) ist Kriminalkommissarin aus der nächstgrößeren Stadt und mag es gar nicht, dass Viktoria ihr ins Handwerk pfuscht. Das Ex-Paar hat eine Tochter, Leon hat ihretwegen den Job bei der Kripo aufgegeben. Viktoria kann mit Kindern zwar nichts anfangen, weil sie im Gegensatz zu Molekülen unberechenbar sind, aber das hält die naseweise und etwas distanzlose Emilia nicht davon ab, ihr immer wieder auf die Pelle zu rücken; Saul, erfahrener Regisseur diverser und zumeist sehenswerter Beiträge zu Krimireihen wie "Nord Nord Mord", "München Mord", "Neben der Spur" oder "Der Kommissar und das Meer", hat auch die junge Matilda Jork ausgezeichnet geführt.
Viele Mitwirkenden sind Polen oder haben polnische Wurzeln. Das sorgt einerseits für große Authentizität, hat aber andererseits wie bei den meisten Auslandskrimis von ARD und ZDF ein seltsames Sprachengemisch zur Folge, weil die einen fließend deutsch sprechen, die anderen einen starken Akzent haben und eine dritte Gruppe synchronisiert worden ist. Die Arbeit der verschiedenen Gewerke ist dagegen wie aus einem Guss. Ähnlich viel Anerkennung wie der vorzüglichen Bildgestaltung gebührt dem Szenenbild (Fryderyk Swierczynski); gerade das Haus der Jankowskys steckt voller kleiner Überraschungen, die Saul aber nie aufdringlich in den Vordergrund rückt. Diese Beiläufigkeit prägt auch den Erzählstil. Anfangs stellen sich viele Fragen, weil sich das nach einer Vorlage von Markus B. Altmeyer entstandene Drehbuch von Ulli Stephan über weite Strecken auf Andeutungen beschränkt: hier eine SMS von Viktorias Chefin, die dringend psychologischen Beistand empfiehlt, dort ein verstörender Moment, als sich eine vermeintliche Leiche im Wasser als Treibgut entpuppt. Von herausragender Qualität ist auch die Musik (Philipp Schaeper, Christopher Colaço, Mark Pinhasov) die den Film zumindest akustisch wie großes Kino wirken lässt. Dank der Bilder, in denen sich auch dank der erdigen Farben in Kostüm und Ausstattung der Gemütszustand der Heldin widerspiegelt, ist der erste "Masuren-Krimi" immerhin ziemlich gutes Fernsehen.