Ein Pärchen flieht mit einem kleinen Kind, dann ist der junge Mann plötzlich in Amsterdam, als hätte er sich dorthin gebeamt: Der Auftakt zum siebten Franken-"Tatort" ist kunstvoll gefilmt, aber nicht leicht zu durchschauen. Die Freundin des Jungen zum Beispiel ist eine ziemlich rätselhafte Figur: Mal ist sie da, dann wieder weg. Die Rolle ist so geisterhaft, dass die ARD sie bei der Übersicht mit den Mitwirkenden zunächst gar nicht aufgeführt hat; dabei ist Coco (Michelle Barthel) für Titus die wichtigste Bezugsperson.
Auf den ersten Prolog folgt ein zweiter: Die Nürnberger Hauptkommissarin Ringelhahn (Dagmar Manzel) erwacht glücklich im Bett eines Mannes, den sie ihrem Kollegen Voss (Fabian Hinrichs) später als "Bekannten" vorstellen wird. Tatsächlich hat die nicht mehr ganz junge Polizistin in dem ausgesprochen liebevollen Rolf Glawogger (Sylvester Groth) offenbar unverhofft eine späte große Liebe gefunden.
Das Glück ist allerdings nur von kurzer Dauer, als plötzlich Voss vor der Tür des Bamberger Lehrers steht: In der Nachbarschaft ist ein kleiner Junge verschwunden. In solchen Fällen wird die Polizei routinemäßig bei Menschen vorstellig, die in irgendeiner Form einschlägig aufgefallen sind, und zu dieser Gruppe gehört auch Glawogger: Zwei Schüler haben ihm kürzlich vorgeworfen, er habe sie sexuell belästigt.
Weil man so was nicht beim ersten Date erzählt, ist Ringelhahn etwas irritiert, aber das legt sich recht bald wieder: Der Lehrer spricht glaubhaft von Verleumdung, und als der fünfjährige Mike verschwunden ist, war er mit der Kommissarin zusammen. Trotzdem bleibt ein Restzweifel, und tatsächlich macht Ringelhahn in Glawoggers Keller eine grausige Entdeckung. Aber was hat der mittlerweile aus Holland zurückgekehrte Titus (Simon Frühwirth) damit zu tun? Wer sind die beiden Männer, die ihn in Amsterdam verfolgen? Warum liegt er morgens nackt auf dem Bamberger Domplatz? Und vor allem: Wer ist Coco?
Es ist eine ziemlich verzwickte Geschichte, die Thomas Wendrich (Buch) und Andreas Kleinert (Regie) mit "Wo ist Mike?" erzählen, zumal der Film nicht alle Fragen beantwortet. Darin liegt natürlich ein gewisser Reiz, auch wenn erfahrene Krimi-Fans Cocos Geheimnis recht bald durchschauen werden.
Beim Lehrer liegt der Fall etwas anders, schließlich wäre es nicht das erste Mal, dass ein sympathischer Zeitgenosse furchtbare Abgründe offenbart, weder im Film noch in der Wirklichkeit; Ringelhahns Erschütterung resultiert daher nicht zuletzt aus der unausgesprochenen Frage, wie sie sich dermaßen in einem Menschen täuschen konnte.
Zu einem besonderen "Tatort" wird das Werk jedoch durch die Bildgestaltung. Kameramann Michael Hammon ("Wheels & Deals", 1991) hat viel mit Andreas Dresen gearbeitet und ist neben Kleinert und Wendrich der dritte Grimme-Preisträger: Der Autor war maßgeblich an der "NSU"-Trilogie "Mitten in Deutschland" (2016) beteiligt, der Regisseur hat die begehrte Trophäe bereits viermal gewonnen, unter anderem für das berührende Demenzdrama "Mein Vater" (2002).
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Kleinerts Filme zeichnen sich grundsätzlich durch eine Bildgestaltung von großer Sorgfalt aus. Allein die Verhaftung Glawoggers ist dank des Zusammenspiels von Kamera und Musik (Daniel Michael Kaiser) ein kleines Kunstwerk. Menschen, die ohnehin der Meinung sind, TV-Krimis würden immer dunkler, werden allerdings nicht viel Freude an "Wo ist Mike?" haben, denn einige Szenen enthalten bloß ein kleines bisschen Restlicht. Andere sind dafür umso heller: Als Titus, der auch mal aus der Perspektive einer Stubenfliege zu sehen ist, in eine psychiatrische Klinik eingeliefert wird, sind Einrichtung und Kleidung von einem geradezu blendenden Weiß.
Äußerst kühl ist dagegen die Atmosphäre in Mikes Elternhaus, einem zwar hochmodernen, aber leblosen Betonklotz; es passt ins Bild, dass Ringelhahn und Voss erst mal vergeblich nach dem Eingang suchen. Im Gebäude hat Voss Visionen des Kindes, das verängstigt in der Ecke hockt; kein Wunder angesichts eines jähzornigen und offenbar auch zu Gewalt neigenden Vaters (Andreas Pietschmann). Im Keller von Glawogger hat der Kommissar eine ähnliche Erscheinung, als ein Junge aus einem Schrank heraus beobachtet, wie ein Mann auf eine Frau einprügelt.
Einen nicht minder verstörenden Effekt haben mitunter die Halluzinationen von Titus, der beispielsweise allerlei Gewürm im Vollbart des Psychiaters (Tilo Nest) erblickt; und schließlich geht sogar mit Ringelhahn die Fantasie durch. Immerhin gibt es auch tröstliche Momente, in denen die Polizistin bei ihren Kolleginnen und Kollegen einen stabilen Rückhalt findet. Aller Tragik zum Trotz gelingt es Wendrich und Kleinert sogar, die Geschichte dieses Krimis, der alles andere als leichte Kost bietet, versöhnlich enden zu lassen.