Damals interpretierte gerade Annika Blendl ihre Rolle als Rockerbraut mit Polizeimarke in besonderer Weise: Pia Walther wird immer noch allzu demonstrativ als Frau in hautengen Lederhosen inszeniert, fährt aber immerhin nicht mehr bei jeder Kleinigkeit aus der Haut. Der Kollege Roth (Anton Spieker) ist nach wie vor recht speziell, erscheint nun jedoch in erster Linie als Technik-Freak und erst in zweiter Linie als Nerd. Diesmal gibt es zwar anders als bisher keine virtuelle Tatortbegehung, doch die Schlussfolgerungen, die Roth aus der Analyse der Tatortfotos zieht, sind faszinierend.
Die Geschichte des Films ist ebenfalls interessant. Sie beginnt mit einem Sturz vom Balkon eines Wohnheims. Kampfspuren am Körper der Leiche deuten darauf hin, dass Doktorandin Katharina höchstwahrscheinlich keinen Suizid begangen hat. Dass der Hausmeister des Wohnheims (Andreas Hoppe) für die Vermittlung von preiswertem Wohnraum gewisse Gefälligkeiten erwartet hat, ist recht früh als übliches Ablenkungsmanöver des Drehbuchs durchschaubar.
Deutlich origineller ist die Spur, die in die Ukraine führt: Katharina war an der Entwicklung eines neuartigen Insulins beteiligt. In Kiew hat sie sich in einen Probanden verliebt, der sie nach dem Abschluss der Forschungen nach Leipzig begleitet hat. Als Maike Riem (Kling) ihn vernehmen will, flieht er in die Heimat. Und dann gibt es noch die obligate Eifersuchtsebene: Katharinas Forschungen sind von einer Firma unterstützt worden. Mit ihrem dortigen Mentor, Fred Eisel, hatte sie eine Beziehung. Der Mann wird von Alexander Beyer gespielt; das lässt ihn zumindest aus Zuschauersicht umgehend zum Hauptverdächtigen werden. Zudem ist er verheiratet und daher erpressbar: Es gibt ein Foto, das ihn mit Katharina im Bett zeigt. Zweiter Favorit auf der Liste ist Katharinas Doktorvater, den Dominik Raacke als gut gealterten Popstar im Maßanzug verkörpert.
Aus dieser Gemengelage hätte ein richtig guter Film werden können, aber "Das Quartett: Die Tote vom Balkon" ist bloß ein Durchschnittskrimi geworden. Das ist schade, weil viele kleine Szenen am Rande verdeutlichen, dass Grimme-Preisträgerin Vivian Naefe ("Einer geht noch", ARD 2000) – sie hat auch die ersten beiden Episoden der Reihe gedreht – gerade kein Fernsehen von der Stange machen wollte.
Sehr hübsch gespielt ist zum Beispiel ein Flirt zwischen Pia Walther und einem Kellner (Yung Ngo). Gänzlich gegen die Gewohnheiten hat Naefe zudem eine typische Krimi-Szene inszeniert: Als Walther zu einem Tatort kommt, wird sie von einer hörbar genervten Polizistin empfangen. Die Leipziger Theaterschauspielerin Anke Stoppa hat nur einen ganz kurzen Auftritt, aber den kostet sie komplett aus; ein paar Sekunden genügen, um zu verdeutlichen, dass die Frau nicht zur Polizei gegangen ist, um nachts in der Kälte rumzustehen.
Ähnlich viel Spaß machen die wortlosen Avancen einer Barfrau (Paula Kober), die nebenbei als Escort-Girl arbeitet. Sie bietet Christoph Hofherr (Shenja Lacher), dem vierten Quartettmitglied, ihre Dienste an, und macht ihn fortan mit ihren Blicken ganz wuschig.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Leider gibt es auch die Gegenstücke. Hofherr hat mit Rauchen aufgehört und behilft sich stattdessen mit Nikotinkaugummi. In einer Szene will sich Walther im Revier eine Zigarette anzünden, sieht Hofherrs Reaktion und steckt die Zigarette zurück; ein Augenblick nur, aber mit den Nahaufnahmen der Schachtel mit unnötigem Ausrufezeichen versehen.
Eine andere Einstellung wirkt ebenfalls wie Fernsehen für Begriffsstutzige: Riem und der russischstämmige Hofherr besuchen im Rahmen eines inoffiziellen Ausflugs nach Kiew das Forschungslabor, in dem Katharina gearbeitet hat. Als sie hinauskomplimentiert werden, zeigt die Kamera (Peter Döttling) auffällig lang ein Toilettenschild, und tatsächlich fällt Riem kurz vorm Ausgang ein, dass sie aufs Klo muss; natürlich bloß ein Vorwand, um ungestört noch ein bisschen im Labor herumschnüffeln zu können.
Gerade bei einer derart erfahrenen und mehrfach ausgezeichneten Regisseurin wie Naefe ("Die wilden Hühner") sind solche unnötigen Betonungen verwunderlich; ihre Filme über die von Andrea Sawatzki kreierte Familie Bundschuh ("Tief durchatmen, die Familie kommt", 2015, und "Von Erholung war nie die Rede", 2017; beide ZDF) zum Beispiel waren jeweils auf den Punkt inszeniert.
Dass es auch anders geht, zeigt während der ersten Stippvisite bei Eisel ein flüchtiger Blick auf den Esstisch: Der Junge ordnet die Erbsen auf seinem Teller zu geometrischen Formen an. Erst später teilt der Vater dem Besuch mit, sein Sohn sei Autist. Immerhin wird die Handlung (Buch: Lancelot von Naso, Markus Thebe) zunehmend komplexer.
Im Hintergrund geht es um eine milliardenschwere Firmenfusion, und am Ende gibt es sogar etwas Action. Die Schießerei ist allerdings nur möglich, weil ein leitender Mitarbeiter zum Treffen mit den amerikanischen Geschäftspartnern seine Pistole mitgebracht hat; das wirkt etwas weit hergeholt. Erstaunlich ist auch die Zahl der namhaften Mitwirkenden, zumal beispielsweise Inka Friedrich (als Katharinas Mutter) nur eine Szene hat und Anja Antonowicz, anderswo auch schon mal Hauptdarstellerin, als Eisels Frau bloß dekorativ in den Kulissen rumsteht.