Mit regelmäßig über zehn Prozent Marktanteil beim jungen Publikum haben die entspannten "Wilsberg"-Krimis zudem auch in einer Zielgruppe Erfolg, die sich vom klassischen Fernsehen angeblich längst abgewendet hat. Das ist natürlich kein Zufall, wie auch Folge Nummer 60 mit dem schönen Titel "Die Nadel im Müllhaufen" belegt. Der Film, eine Wiederholung aus dem Jahr 2018, ist innerhalb der Reihe gar nicht mal hochklassig, aber er entspricht einem Standard, der das Ergebnis eines fast 25 Jahre währenden Prozesses ist. Und das gilt nicht nur für das fünfköpfige Ensemble, dem selbst nach so vielen Jahren keine Abnutzungserscheinungen anzusehen sind.
Bestes Beispiel für die amüsierte Grundhaltung, mit der die Krimis entstehen, ist diesmal der Abspann mit der berühmten Titelmelodie aus Francis Ford Coppolas Mafia-Klassiker "Der Pate"; Kriminaloberkommissar Overbeck (Roland Jankowsky) war ohnehin die ganze Zeit überzeugt, die Mafia habe ihre Finger im Spiel.
Aber der Reihe nach: Eine Frau bittet den Privatdetektiv (Leonard Lansink), ihren Ex-Gatten zu suchen. Er arbeitete bei der Müllabfuhr und war einer "üblen Schweinerei" auf der Spur, wie er ihr geschrieben hat; kurz drauf wird er tot in einem Müllcontainer gefunden. Weil in seiner Mitteilung von "der Familie" die Rede ist, zählt Overbeck eins und eins zusammen: Müll plus Familie gleich Mafia. In der Tat kommt Wilsberg dank tätiger Mithilfe von Kumpel Ekki (Oliver Korittke) einem Verbrechen auf die Spur, das durchaus die Bezeichnung "üble Schweinerei" verdient hätte, aber die Botschaft des Ex-Manns hat einen gänzlich anderen Hintergrund.
Es hat schon deutlich ungewöhnlichere "Wilsberg"-Themen gegeben; gerade in letzter Zeit haben sich die Geschichten mehrfach mit den dunklen Seiten der Digitalisierung auseinandergesetzt. Verglichen mit diesen Themen geht es in "Die Nadel im Müllhaufen" auf den ersten Blick um eine ganz normale Krimi-Handlung. Der Reiz liegt darin, wie diese Geschichte erzählt wird.
Als erstes sorgt Wilsberg dafür, dass sich der verblüffte Ekki im Rahmen einer Resozialisierungsmaßnahme als entlassener Häftling bei der Müllabfuhr wiederfindet. Immerhin erfüllt er dem braven Finanzbeamten auf diese Weise einen Kindheitstraum, und weil die Bilder von den "Königen der Straße" leitmotivisch mit einem rockigen Song von ZZ Top unterlegt sind, wirkt der Job in der Tat ziemlich cool; so gesehen ist der Film auch eine Verbeugung vor den Müllmännern. Ekki empfindet ohnehin eine kindliche Freude an seiner neuen Rolle, spielt gleichzeitig jedoch den vermeintlichen Schwerverbrecher derart überzeugend, dass ihn Schichtführer Klaschka (Timo Jacobs) prompt zu einem krummen Ding einlädt.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Das Drehbuch schrieben Duo Sönke Lars Neuwöhner und Natalia Geb, Regie führte Martin Enlen; von dem Trio stammt auch die ungewohnt ernste "Wilsberg"-Folge "Kein Weg zurück" (2015). Diesmal signalisiert schon das Titelwortspiel eine gewisse Unbeschwertheit. Es gibt zwar die üblichen Spannungsszenen, wenn Wilsberg wieder mal irgendwo rumschnüffelt, jeden Moment entdeckt werden kann und bei einer dieser Gelegenheiten beinahe unter einem Müllsack erstickt, aber die Grundstimmung des Films ist gerade auch dank der amüsanten Dialoge eher heiter: weil der gegen Ironie immune Overbeck seine Chefin Anna Springer (Rita Russek) mit ständigen Hinweisen auf die Mafia nervt ("Wer sich mit der Mafia ins Bett legt, wacht mit einem Pferdekopf wieder auf") oder weil Anna und Ekki trotz jahrelanger leidvoller Erfahrung immer wieder auf Wilsbergs kleine Tricks reinfallen.
Keine Witzfigur ist dagegen die Frau, die alles ins Rollen bringt: Elena, die Ex-Gattin des toten Müllmanns, ist eine radikale Aussteigerin, die von weggeworfenen Lebensmitteln lebt und sämtlichen Repräsentanten der Staatsmacht mit tiefem Misstrauen begegnet. Alle anderen sparen zwar nicht mit Seitenhieben auf diese Frau, aber der Film macht sich nie über sie lustig, im Gegenteil: Anne Kanis versieht die von ihrer Familie verstoßene sanfte Elena zwar mit einer anrührenden Fragilität, verkörpert sie aber gleichzeitig würdevoll als Persönlichkeit mit konsumkritischen Prinzipien.
Auch das ist neben dem Verzicht auf plakative Gewalt ein sympathisches "Wilsberg"-Merkmal: Figuren werden nur dann der Lächerlichkeit preisgegeben, wenn sie es nicht anders verdient haben. Die Frauen kommen in dieser Geschichte (wenn auch mit einer Ausnahme) ohnehin gut weg. Für Alex (Ina Paule Klink), aushilfsweise bei "Münster Müll" Pressesprecherin, Personalleiterin und Rechtsbeistand in einer Person, gilt das ohnehin, aber auch ihre Chefin Isabell (Genija Rykova) ist nicht unsympathisch. Von den illegalen Nebengeschäften ihres Angestellten Klaschka weiß sie zwar nichts, aber das hindert Overbeck nicht daran, sie als regionale Repräsentantin der Mafia zu betrachten.
Deshalb hat er immer wieder Albträume, in denen Isabell ihn ermorden will. Enlen inszeniert diese Nachtmahre mit viel Augenzwinkern: Wenn der Kommissar von Müllcontainern zerquetscht zu werden droht, erinnert das unübersehbar an klassische Abenteuerfilme, in denen der Held in einer Gruft festsitzt, deren Wände immer näher rücken. "Wilsberg"-Fans, die auf das Stichwort "Bielefeld" warten, werden gleich doppelt belohnt: mit einem Hinweisschild in einer Kneipe und mit einem Epilog, der Overbeck große Befriedigung verschaffen würde.