Berichte über Pushbacks: Juristin bemängelt Grauzone in EU-Recht

Berichte über Pushbacks: Juristin bemängelt Grauzone in EU-Recht
24.03.2021
epd
epd-Gespräch: Phillipp Saure

Brüssel, Kiel (epd). In der Diskussion über das Zurückdrängen von Flüchtlingsbooten (Pushbacks) im Mittelmeer in Richtung Türkei kritisiert die Kieler Seerechtsexpertin Nele Matz-Lück eine Grauzone im Europa-Recht. Das einschlägige EU-Gesetz gehe davon aus, dass ein Boot mit Migranten ohne Einreiseerlaubnis auf die Anweisung von Grenzschützern hin freiwillig den Kurs ändere, sagte die Jura-Professorin dem Evangelischen Pressedienst (epd). Diese Annahme sei aber lebensfremd. "In der Praxis ist es wohl eher so, dass Schiffe gezwungen werden, den Kurs zu ändern." Davon sage die EU-Verordnung für von der Grenzschutzagentur Frontex koordinierte Einsätze an den Seeaußengrenzen aus dem Jahr 2014 aber nichts.

In der Ägäis versuchen immer wieder Menschen, von der Türkei aus nach Griechenland überzusetzen. Medien und Menschenrechtler haben Vorwürfe erhoben, dass Griechenlands Küstenwache solche Versuche durchkreuze, indem sie Boote zum Beispiel abdränge oder zurückschleppe. Frontex wurde Mitwissen und Verwicklung in solche Vorfälle vorgeworfen.

"Staaten dürfen natürlich ihre Seeaußengrenzen schützen", machte Matz-Lück klar. Daher sei es grundsätzlich rechtens, wenn die griechische Küstenwache aus der Türkei übersetzende Menschen ohne Einreiseerlaubnis zum Verlassen ihres Küstenmeeres auffordere und diese dem freiwillig nachkämen. "Aber was ist freiwillig?" Wenn Grenzschützer zum Beispiel nah an ein Migranten-Boot heranführen und starke Wellen auslösten, so dass es wegen Kentergefahr abdrehen müsse, sei dies sicher nicht freiwillig.

Die Jura-Professorin und Vizepräsidentin der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel wollte nicht beurteilen, ob griechische Küstenwache oder Frontex tatsächlich an solchen Manövern beteiligt waren. Falls dem so sei, sei aber zweierlei berührt, so Matz-Lück: Die Grenzschützer dürften Menschen nicht in Seenot bringen oder darin belassen, und sie müssten das Gebot der Nichtzurückweisung (Refoulement-Verbot) gewährleisten. Dieses solle an Land wie auf See garantieren, dass niemand in ein Land geschickt wird, wo ihm schwere Menschenrechtsverletzungen drohen.

Das Refoulement-Verbot greife, "wenn der Staat Kontrolle über Menschen erlangt hat", so Matz-Lück. In der Ägäis wäre das zum Beispiel der Fall, wenn die Küstenwache das fragliche Boot an den Haken genommen oder die Insassen an Bord geholt habe. Die Menschen dürften dann nicht der türkischen Küstenwache überstellt oder in türkische Gewässer zurückgebracht werden, auch wenn keine Seenot bestehe, erklärte die Juristin. Dies gelte unabhängig davon, ob die Betroffenen im griechischen Küstenmeer oder auf Hoher See abgefangen würden. "Es besteht dann die Pflicht zu prüfen, ob die Personen schutzbedürftig sind."

Darüber hinaus bestimme die Seeaußengrenzenverordnung von 2014, dass bei einem Abfangen im Küstenmeer oder dessen Anschlusszone die Ausschiffung stets im Küstenmitgliedstaat - hier also Griechenland - stattfinden müsse. Vor diesem Hintergrund, vermutet Matz-Lück, könnten Frontex und griechische Küstenwache ein Interesse daran haben, "dass es gar nicht erst zu einer Ingewahrsamnahme kommt".