Als Nebel aufzieht, kehren fast alle um; nur Laura und ein weiterer Schüler wollen keine Schafe sein. Der einzige, der das rettende Ziel nicht erreicht, ist am Ende der Pädagoge. Die Auricher Hauptkommissarin Ann Kathrin Klaasen (Julia Jentsch) fragt sich, ob das Schülerpaar eine Rechnung beglichen hat, zumal im Watt ein Schuss gefallen ist. Kurz drauf wird tatsächlich ein Toter gefunden, doch der Lehrer bleibt verschwunden. Das wäre als zentrale Handlung zwar nicht unbedingt außergewöhnlich, könnte aber dennoch ein interessanter Krimi werden. Der mutmaßliche Tod im Watt erweist sich jedoch bloß als Vorwand, um eine der beiden weiblichen Gastfiguren einzuführen, denn "Ostfriesenangst" erzählt nun eine gänzlich andere Geschichte: Eine kühl-arrogante BKA-Kommissarin (Natalia Belitski) observiert seit mehreren Monaten den aus der Haft entlassenen Serienvergewaltiger Eichinger. Sie ist überzeugt, dass der Mann rückfällig wird, und tatsächlich hat er Laura (Elisa Schlott) offenbar zu seinem nächsten Opfer erkoren.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Der besondere Reiz des Films liegt im Wechsel der Perspektiven: Christian Limmer (Buch) und Hannu Salonen (Regie), die schon bei der ARD-Serie "Oktoberfest" zusammengearbeitet haben, schildern die Ereignisse zunehmend aus der Sicht Eichingers, was sich prompt auf die Wahrnehmung auswirkt. Das hat vor allem mit dem Verkörperung durch Harald Windisch zu tun: Der frühere Vergewaltiger, von der Boulevardpresse als "Monster" tituliert, wirkt eher wie ein Getriebener als wie ein Triebtäter. Klaasen hat ohnehin kein Verständnis für die vorverurteilende Haltung der BKA-Kollegin Fädli; ihrer Ansicht nach hat selbst jemand wie Eichinger das Recht auf eine zweite Chance. Doch der Mann scheint nicht aus seiner Haut zu können: Als Laura zusammen mit ihrem Freund Sascha (Anselm Bresgott) vor der Polizei geflohen ist, hat sich Klaasens Kollege und Lebensgefährte Weller (Christian Erdmann) bei einem Sturz schwer verletzt; nun verstecken sich die beiden Jugendlichen auf Norderney, wo sie Eichinger geradewegs in die Falle tappen. Weil er sich glaubwürdig als Schicksalsgefährte ausgibt, der nach einem unverschuldeten Unfall ebenfalls gesucht wird, fasst Laura Vertrauen zu ihm; sie kann ja nicht ahnen, dass der Mann von einem kranken Typen (Jan Krauter) bereits das Geld für ein sadistisches Video erhalten hat.
Inhaltlich lebt der Film vom Rollentausch zwischen Tätern und Opfern sowie von der Frage, wer hier der eigentliche Serienverbrecher ist. Neben den ausnahmslos guten Leistungen der Schauspieler beeindruckt Salonens Umsetzung vor allem durch ihre Optik. Der gebürtige Finne ist ohnehin ein Regisseur, der gern mit starken Bildern arbeitet; seine Beiträge zu "Die Toten vom Bodensee" gehörten zu den visuell stärksten Episoden der Reihe. Mit Kameramann Mikael Gustafsson hat er schon "Arctic Circle" (2020) gedreht. Was für die ZDF-Serie die eindrucksvollen Schneebilder waren, ist in Salonens erstem "Ostfriesen"-Krimi der Nebel, der einen perfekten atmosphärischen Rahmen für die Handlung liefert. Die sinnvoll eingesetzten Drohnenaufnahmen betonen die Unwirtlichkeit des winterlichen Watts, die Nachtaufnahmen im Ort zeichnen sich durch eine besondere Lichtgestaltung aus.
Abgesehen von einem unnötigen Informationsdialog zwischen den Kommissarinnen, die sich gegenseitig erklären müssen, warum ein Serientäter trotz Rückfallprognose aus der Haft entlassen wird, ist "Ostfriesenangst" ein guter TV-Krimi ohne Schwachstellen. Klaasens Privatleben, das in erster Linie aus Problemen mit dem pubertierenden Sohn besteht, gehört ebenso zum Kern der Reihe wie ihre Zwiegespräche mit dem verstorbenen Vater (Ernst Stötzner), der sich immer wieder als Ratgeber einschaltet. Auch die übersinnlichen Momente sind vergleichsweise moderat integriert: Eichinger hat sich in einem Wohnwagen versteckt. Wenn die Kommissarin bei einem Blick in den Spiegel des Gefährts sein Gesicht sieht, wirkt das eher wie eine Art Eingebung. Julia Jentsch hat der Rolle ohnehin einen anderen Charakter gegeben als Vorgängerin Christiane Paul: Klaasen stellt nach wie vor ihre Arbeit über alles andere, weshalb sie als alleinerziehende Frau zwangsläufig nicht die Mutter sein kann, die sie gern wäre; dennoch ist die Kommissarin deutlich nahbarer als in den ersten drei Filmen.