Ihr Vater Hossein, ein Radiologe, der in Genf studiert hatte, war schon durch seine Herkunftsfamilie ganz und gar westlich orientiert. Ihre Mutter Tahi stammte hingegen aus einer konservativen Familie. Die Anpassung an den Lebensstil ihres Mannes, dem sie in den 60er Jahren nach Genf gefolgt war, vollzog sich entsprechend zögerlich und widerwillig; innerlich trug sie immer Kopftuch. Ihr Kind sollte allerdings in Teheran aufwachsen. Als die islamische Revolution 1979 das alte Regime hinwegfegte und es kurz drauf zum Krieg gegen den Irak kam, wandelte sie sich zur radikalen Muslimin, ließ sich zur bewaffneten Kämpferin ausbilden und sorgte dafür, dass im Haus streng religiöse Sitten herrschten.
Filme aus dem Iran gelangen nur selten zu uns. Wer nicht bereit ist, sich den Auflagen der geistlichen Führung zu unterwerfen, hat praktisch Berufsverbot. Zu den wenigen Regisseuren, denen es gelungen ist, sich der Beobachtung zu entziehen, gehört Jafar Panahi, der 2006 durch seinen Film "Offside" über fußballbegeisterte Mädchen bekannt wurde und für seinen illegal gedrehten und aus dem Land geschmuggelten Dokumentarfilm "Taxi Teheran" 2015 bei der Berlinale den Goldenen Bären bekommen hat.
Khosrovani hat zwar eine völlig andere Arbeitsweise, stand aber vor einem vergleichbaren Problem: Wie soll sie von den eigenen Eltern erzählen, wenn der Vater längst verstorben ist? Natürlich hätte sie ihre Mutter berichten lassen können, aber das wollte sie nicht; eine Rekonstruktion der Familiengeschichte mit Hilfe von Spielszenen kam ebenso wenig in frage.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Also hat die für verschiedene Dokumentarfilme mehrfach ausgezeichnete Filmemacherin einen gänzlich anderen Weg für das "Röntgenbild einer Familie" gefunden, der zumindest auf der akustischen Ebene einen gewissen Spielcharakter hat: Sie lässt zwei Schauspieler die Gespräche von Hossein und Tahi führen. Zu sehen sind derweil zeitgenössische Archivaufnahmen, die das Leben in der Schweiz der jener Jahre zeigen, ergänzt um Bilder aus den Fotoalben der Eltern sowie später um private Super-8-Aufnahmen.
Auf diese Weise entsteht tatsächlich das „Röntgenbild einer Familie“, weil dank der fiktionalisierten Dialoge ganz andere Einblicke möglich sind als durch persönliche Erinnerungen. Hätte sich der vom ZDF koproduzierte Film allein auf die Aussagen der Mutter gestützt, wäre er zwangsläufig sehr einseitig ausgefallen. So jedoch kann Khosrovani beiden Seiten gerecht werden: hier der Vater, der klassische Musik liebt und das Leben genießt, dort die Mutter, die sich im Genfer Straßenbild angesichts der in ihren Augen skandalös freizügig gekleideten Frauen denkbar deplatziert und von Sünde verfolgt fühlt. Typisch für die Diskrepanz zwischen in dem Paar ist ein Dialog wie jener, als sich Tahi nach ihrer Ankunft zum Gebet gen Mekka wenden will und der areligiöse Hossein sinngemäß sagt, Gott werde es schon nicht so genau nehmen.
"Gegensätze ziehen sich an", sagt der Volksmund. Ob das auch in diesem Fall stimmt, lässt die Regisseurin offen. Hossein und Tahi haben sich bei einer Familienfeier ineinander verliebt. Die Hochzeitszeremonie fand allerdings ohne den deutlich älteren Bräutigam statt, denn der war wegen seines Studiums nicht abkömmlich; die Frau hat ein Foto geheiratet, dann ist sie nach Genf geflogen. Den entsprechenden Kulturschock kann man sich ausmalen. Selbst für das nachgeholte Hochzeitsfoto hat sie ihr Kopftuch nur äußerst widerwillig abgelegt; bis dahin hatte kein fremder Mann ihre Haare gesehen. Die Zeit in der Schweiz hat, wenn überhaupt, nur zu einer äußerlichen Anpassung geführt. Nach der Rückkehr in die Heimat geriet Tahi unter den Einfluss des Religionssoziologen Ali Schariati, der zur Stimme der Revolution wurde.
Als Sinnbild für den Wandel zeigt Khosrovani immer wieder lange Blicke ins Elternhaus, dessen Einrichtung zunächst vom Geschmack des Vaters dominiert wird; inklusive des Gemäldes einer unbekleideten Frau im Gras. Parallel zu Tahis Radikalisierung wandelt sich auch das Wohnungsbild: Nach und nach verschwindet jeglicher Luxus, bis es immer karger und schließlich rein funktional wird. Selbstverständlich hängt auch das Gemälde irgendwann nicht mehr über dem Ehebett. Spätestens jetzt leben die Eltern in verschiedenen Welten – und ihre Tochter dazwischen.