Und der HERR redete mit Mose und sprach: Sage Aaron und seinen Söhnen und sprich: So sollt ihr sagen zu den Israeliten, wenn ihr sie segnet: Der HERR segne dich und behüte dich; der HERR lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der HERR hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden. So sollen sie meinen Namen auf die Israeliten legen, dass ich sie segne.
4. Mose 6,22–27 (Hier gelesen von Helge Heynold)
Liebe mündige Leserinnen und Leser,
erwachsen zu sein bedeutet, Verantwortung zu tragen. Zunächst einmal ist ein erwachsener Mensch für sich selbst verantwortlich. Es gibt zwar gesellschaftliche Gesetze und Regeln, aber innerhalb dieser kann man sich – zumindest in unserem Land – frei bewegen. Erwachsene dürfen selbst entscheiden, ob sie ihre Zähne putzen oder wie viel Cola sie trinken. Sie können sich ihre Kleidung selbst aussuchen und so lange wach bleiben, wie sie wollen. Was für Kinder wie die vollkommene Freiheit erscheinen mag, ist für die Erwachsenen selbst gar nicht so einfach zu bewältigen. Wer aufwächst, lernt, manchmal am eigenen Leib, dass Freiheit eben auch bedeutet, dass man Dinge falsch machen kann. Ungeputzte Zähne schmerzen irgendwann, wer zum Vorstellungsgespräch eingeladen ist, trägt am besten keine Jogginghosen, nicht einmal, wenn man in einem Fitnessstudio anheuern will.
Erwachsene sind also ständig damit beschäftigt, ihre eigentlich große Freiheit dem anzupassen, was gut für sie ist. Und damit nicht genug. Mit zunehmendem Alter nimmt auch die Verantwortung für andere Menschen zu. Am deutlichsten wird das, wenn man selbst Kinder großzieht. Aber auch außerhalb der Familie tragen mündige Menschen Verantwortung für andere. Das merken wir in der Pandemie gerade besonders deutlich. Wir müssen nicht nur uns selbst schützen, sondern immer auch die anderen. Und darum schränken wir nicht nur unsere eigene Freiheit extrem ein, sondern auch noch die derjenigen, für die wir Verantwortung übernommen haben. Vernünftig sein ist ätzend. Verantwortung ist eine Last.
Ich habe Verständnis für jeden erwachsenen Menschen, der gerade wie ein Kind einfach „ungerecht“ schreien und mit dem Fuß gegen Dinge treten will. Ich kann nachvollziehen, wenn mündige Bürgerinnen und Bürger ihre Verantwortung am liebsten abgeben möchten und danach rufen, dass sich endlich jemand um sie kümmern soll. Die Tatsache, dass ich bei ungemütlichem Wetter in möglichst bequemer und warmer Kleidung zu Hause sitze, mir regelmäßig heißen Tee brühe und seit meiner Mail mit dem Sauerteig selbst Brot backe, macht mir deutlich, dass ich mich auch am liebsten einigeln möchte. Am liebsten möchte ich nur noch verantwortlich für mich selbst sein, oder noch lieber: Wie ein Kind jemanden haben, der für mich die Verantwortung übernimmt.
Ich habe Ihnen heute den „Aaronitischen Segen“ mitgebracht. Die Worte aus der Bibel, die Gott über Mose an Aaron weitergibt, der sie wiederum seine Söhne, also alle Priester lehren soll. Die sollen das Volk mit diesen Worten segnen, und so geschieht es bis heute am Schluss unserer Gottesdienste. Es sind darum recht bekannte Worte. Trotzdem kann man bei ihnen durcheinanderkommen, wenn man sie spricht, und ich kann Ihnen verraten, dass es für viele Menschen, die Gottesdienste leiten, eine gewisse Angstpartie ist. Erst „lasse leuchten?“ Oder erst „erhebe sein Angesicht?“ Erst „behüten“ oder erst „gnädig“? Vielleicht haben Sie es auch schon erlebt, dass ein Liturg oder eine Liturgin bei diesem Segen ins Schlingern kam.
Ich mag diesen Segen besonders, seit ich von einer Freundin gesagt bekommen habe, dass die Gesegneten hier auf Gott schauen, wie Kinder aus einem Kinderwagen auf ihre Eltern blicken. Über ihnen strahlt sie ein freundliches Gesicht an. Der Anblick ist bekannt und bedeutet Geborgenheit und Frieden. In das Gesicht zu schauen lässt ahnen, dass alles in Ordnung ist, dass jemand Verantwortung übernimmt und sich kümmert. Was für ein schönes Bild für einen Segen! Was für eine schöne Vorstellung, sich so anschauen und behüten zu lassen! Dieser Segen macht mir deutlich, dass ich trotz meines erwachsenen Alters eben nicht alles in der Hand habe und haben muss. Ich bestimme mein Leben nicht vollständig selbst. Auch kein anonymes Schicksal, sondern das Angesicht Gottes leuchtet über mir.
Darum will ich Ihnen heute auch eine Wochenaufgabe geben, die zu dem Aaronitischen Segen passt. Legen Sie immer wieder einmal ihren Kopf zurück! Blinzeln Sie und schauen Sie durch Zimmerdecke und Wolkendecke hindurch in das Angesicht Gottes! Gott lächelt Sie an, lächeln Sie zurück! Geben Sie Ihre Verantwortung für einige Momente ab. Und wenn Sie wieder geradeaus schauen, machen Sie sich klar, dass Sie gesegnet sind.
Gott segne Sie und behüte Sie!
Gott lasse leuchten das Angesicht über Ihnen und sei Ihnen gnädig!
Gott erhebe das Angesicht auf Sie und gebe Ihnen Frieden!
Ihr Frank Muchlinsky