Ein symbolhafter Akt mit tiefgreifender Bedeutung steht im Zentrum des Holocaust-Gedenkens am 27. Januar in Berlin: Im Andachtsraum des Deutschen Bundestages liegt im Anschluss an die Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus die älteste Torarolle Süddeutschlands aus, um vervollständigt zu werden. Der Sofer, ein sogenannter Schreiber, wird mit Gänsekiel und reiner Tinte die letzten acht Buchstaben in die heilige Schrift der Juden schreiben.
Normalerweise geschieht dies in einer Synagoge. Hier aber stehen die Repräsentantinnen und Repräsentanten der Verfassungsorgane Deutschlands Pate: Von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bis hin zum Bundesverfassungsgerichtspräsidenten Stephan Harbarth verpflichten sie sich mit den letzten Buchstaben der Torarolle, jüdisches Leben in Deutschland zu schützen und dauerhaft zu ermöglichen. Von jüdischer Seite nehmen an der Zeremonie teil: der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, die Gedenkrednerin und Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch, sowie der Amberger Rabbiner Elias Dray.
Stadtbrand und Pogromnacht überstanden
"Es wird ein bewegender Moment", sagt Dray. Dem Rabbiner ist es zu verdanken, dass die mehr als 200 Jahre alte Torarolle überhaupt gefunden wurde. Die Schriftrolle datiert auf das Jahr 1793 und trägt die Inschrift "Sulzbach". Gut 70 Jahre hatte sie unerkannt im Schrein der Amberger Synagoge gestanden, bevor Rabbiner Dray das wertvolle Stück im Jahr 2015 fand, wie er erzählt. "Es war ein Glück, dass sie eine Inschrift an der Halterung hatte mit der Jahreszahl ihrer Entstehung." Sonst wäre er kaum auf sie aufmerksam geworden. "Nur etwa jede tausendste Rolle trägt außen eine Jahreszahl."
Angefertigt wurde das Pergament mit den fünf Büchern Mose für die Synagoge in Sulzbach. Dort existierte bis 1851 auch eine der fünf größten hebräischen Buchdruckereien der Welt. 1934 löste sich die dortige Gemeinde auf, die Rolle kam in die jüdische Gemeinde nach Amberg. Kurz vor der Reichspogromnacht 1938 versteckte sie der letzte Religionslehrer der jüdischen Gemeinde im Heimatmuseum in Amberg. Damit hat das Schriftstück wie durch ein Wunder auch den großen Stadtbrand von 1822 in Sulzbach überdauert und legt Zeugnis dafür ab, dass jüdisches Leben in der Oberpfalz schon seit Jahrhunderten existiert.
Wieder Verwendung im Gottesdienst
Zur Begutachtung brachte Dray die Torarolle nach Israel. Dort stellte man fest, dass eine Restaurierung der aus 30 Tierhäuten bestehenden, 24 Meter langen und 65 Zentimeter hohen Rolle rund 45.000 Euro kosten würde - zu viel für die Israelitische Kultusgemeinde Amberg. Beschädigt aber darf eine Tora nach jüdischen Gesetzen nicht mehr für Gottesdienste verwendet werden. Sie kann, wie in solchen Fällen üblich, auf einem jüdischen Friedhof beerdigt werden.
Der Bund übernahm daraufhin fast die gesamten Kosten, um das imposante Zeugnis jüdischen Lebens in Bayern zu erhalten. Die aufwendige Restauration dauerte fast zwei Jahre. Vor jeder Schreibsitzung bittet der Sofer Gott um die physische und mentale Kraft. Es wird von rechts nach links geschrieben. Kein Buchstabe darf an den anderen anstoßen, sonst ist alle Arbeit umsonst.
Nach ihrem Auftritt in Berlin kommt die Rolle zunächst für ein paar Monate erneut unter Verschluss, bevor sie im Juni im Amberger Rathaus feierlich in Empfang genommen und bei einer Prozession in die Synagoge zurückgebracht wird. Dort solle sie auch wieder im Gottesdienst verwendet und nicht nur wie ein Museumsstück ausgestellt werden, sagt der Rabbiner.
Das Holocaust-Gedenken im Deutschen Bundestag steht diesmal im Zeichen des Jubiläumsjahres "391-2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland". Neben Knobloch spricht auch die Publizistin Marina Weisband als Vertreterin der dritten Generation nach der Schoah. Das Jubiläumsjahr, das an den frühesten Quellennachweis einer jüdischen Gemeinde im deutschsprachigen Raum im Jahr 321 erinnert, soll auf die jahrhundertelange gemeinsame christlich-jüdische Geschichte aufmerksam machen sowie auf die prägende Rolle jüdischen Lebens und jüdischer Kultur in Deutschland und Europa vor und nach der Schoah.
Die Gedenkstunde wird am 27. Januar ab 11 Uhr live im Internet übertragen.