Ein Marathonläufer für Menschenrechte - Jürgen Micksch

Jürgen Micksch
©epd-bild/Peter Jülich
Der evangelischer Theologe Jürgen Micksch ist Pro-Asyl-Gründer.
Ein Marathonläufer für Menschenrechte - Jürgen Micksch
Pro-Asyl-Gründer und Theologe wird 80 Jahre alt
Jürgen Micksch stand mit Curd Jürgens und Ingrid Bergman vor der Kamera, erfand den Begriff "multikulturelle Gesellschaft" und gründete die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl und die Stiftung gegen Rassismus. Ans Aufhören denkt der evangelische Theologe noch lange nicht.  

Jürgen Micksch ist ein Marathonläufer für Menschenrechte. Immer freundlich und charmant im Auftreten, aber zielgerichtet und beharrlich in der Sache. Seit fast fünf Jahrzehnten engagiert sich der evangelische Theologe und Soziologe für gesellschaftliche Minderheiten wie Obdachlose und Flüchtlinge, die Überwindung von Rassismus und Antisemitismus sowie den Dialog der Religionen. An diesem Mittwoch feiert der agile Mann mit dem grauen Haarschopf und dem akkurat gestutzten Vollbart seinen 80. Geburtstag.

 

Wer könnte wohl berufener über das Thema Flucht, Vertreibung und Diskriminierung reden als Micksch selbst. Gerade vier Jahre alt, muss er mit seinen Eltern vor der heranrückenden Roten Armee aus dem schlesischen Breslau fliehen. Die Familie schlägt sich durch nach Österreich und weiter nach Niederbayern, wo sie von den Einheimischen nicht gerade mit offenen Armen empfangen wird.

Mit 19 die Nase voll von der Glitzerwelt

Die 1950er Jahre nehmen für das Flüchtlingskind eine wundersame Wendung. Bei einem Vorsprechen für eine Schultheateraufführung wird der neunjährige Sohn eines Konditors unter 40 Bewerbern ausgewählt und zum Kinderstar aufgebaut. Er gibt den "Jungen" in Fritz Kortners Inszenierung von "Warten auf Godot" an den Münchener Kammerspielen und den HJ-Führer Heini in dem Film "08/15". Er spielt mit dem "normannischen Kleiderschrank" Curd Jürgens, mit Heinz Rühmann und Ingrid Bergman, zudem ist der Kinder- und Jugenddarsteller in Theaterstücken und Hörspielen.

Mit 19 hat Micksch die Nase voll von der Glitzerwelt, "auch weil ich die Armut vieler Schauspieler hautnah miterlebt habe", wie er sagt. Micksch studierte in München, Heidelberg, Tübingen und Berlin Philosophie und Theologie unter anderem, "weil ich mich kritisch mit der Botschaft des Evangeliums auseinandersetzen wollte". 1965 absolvierte er das Erste Theologische Examen und arbeitete anschließend als Vikar in Regensburg. Ab 1966 studierte er Soziologie in Erlangen, Nürnberg und Münster. 1968 absolvierte er das Zweite Theologische Examen, 1971 promovierte er im Fach Soziologie über das Thema "Jugend und Freizeit in der DDR". Anschließend schlüpft er in jene Rolle, die ihm, so seine Überzeugung, am besten zu Gesicht steht: die des Seismographen für fremdenfeindliche und rassistische Tendenzen, des Kämpfers gegen Vorurteile und Stereotype, des Moderators und Mitgestalters von Integration.

Damals jüngster Oberkirchenrat

Damit ist er seiner Zeit weit voraus, wie der hessen-nassauische Kirchenpräsident Volker Jung hervorhebt: Früher als viele andere habe Micksch verstanden, dass sich eine multikulturelle Gesellschaft vor allem an den Menschenrechten ausrichten und auch multireligiös sein müsse.

Bereits 1975 ruft Micksch den "Tag des ausländischen Mitbürgers" ins Leben, von 1974 bis 1984 baut er als damals jüngster Oberkirchenrat die Ausländerarbeit der Evangelischen Kirche in Deutschland auf und formuliert 1980 die These von der Bundesrepublik als einer "multikulturellen Gesellschaft". Das trägt ihm Kritik und Häme ein, nicht zuletzt von seiner Kirche. Trotzdem tritt er noch zweimal in ihren Dienst: von 1984 bis 1993 als stellvertretender Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing und anschließend bis 2001 als Interkultureller Beauftragter der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau.

In seine Tutzinger Zeit fallen die Gründung des Münchner Straßenzeitungsprojekts "BISS" und der Bundesarbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge, Pro Asyl. "Die Stimmung gegen Flüchtlinge und Asylsuchende war Mitte der 1980er Jahre vergiftet", erinnert sich Micksch. Es habe kaum jemanden gegeben, die sich für sie einsetzte. "Das war empörend". Von Anfang an mit dabei war auch Pro-Asyl-Geschäftsführer Günter Burkhardt. "Ich bin unendlich dankbar, dass ich als junger Mensch mit Jürgen und Weggefährten Pro Asyl als unabhängige Stimme für die Menschenrechte von Flüchtlingen aufbauen durfte", sagt er.

Mit "Wandel durch Kontakte" gegen Rassismus

Obwohl Pro Asyl rasch zahlreiche Unterstützer anlockt, kocht mit der wachsenden Zahl von Hilfesuchenden die fremdenfeindliche Stimmung in Deutschland immer mehr hoch und gipfelt schließlich Anfang der 1990er Jahre in einer Serie von Verbrechen. Um etwas dagegenzusetzen, gründete Micksch 1994 in Frankfurt am Main den Interkulturellen Rat. Aus ihm entwickelten sich das Abrahamische Forum und das Deutsche Islamforum, aber auch die Internationalen Wochen gegen Rassismus und ab 2014 die Stiftung für die Internationalen Wochen, deren Geschäftsführer der Tausendsassa Micksch bis heute ist. 

Micksch ist Verfasser und Herausgeber von zahlreichen Aufsätzen und mehr als 25 Büchern. Im Jahr 2000 erhielt er den Innovationspreis der EU für das Projekt "Rassismus auf dem Lande" und 2012 das Bundesverdienstkreuz. 2015 wurde er für seinen jahrzehntelangen Einsatz für Flüchtlinge mit dem Erich-Kästner-Preis des Presseclubs Dresden geehrt.

Mit einer Vielzahl kluger Ideen und Aktivitäten versuchen Micksch, seine Mitarbeiterinnen und zahlreiche Ehrenamtliche, Rassismus und Gewalt zurückzudrängen. Dabei setzt er vor allem auf einen "Wandel durch Kontakte". Auch der Bielefelder Konfliktforscher Andreas Zick schätzt den in der Nähe von Darmstadt lebenden Jubilar vor allem für seine Gesprächsbereitschaft, seine "unermüdlichen Bemühungen, Menschen und Gruppen zusammenzubringen".

Mickschs Strategie, kluge Projekte zu initiieren, Geldgeber und prominente Förderer dafür zu begeistern und mit einem langen Atem an deren Verwirklichung zu arbeiten, geht immer wieder auf. So gab es etwa 2019 mehr als 3.000 Veranstaltungen zu den Anti-Rassismus-Wochen, und im vergangenen November gelang sogar die Gründung eines Abrahamischen Forums für die arabischen Länder und Israel. Das Forum ist ein im Jahr 2001 gegründeter Zusammenschluss von Juden, Christen und Muslimen. Alle drei Religionen betrachten Abraham - beziehungsweise Ibrahim - als ihren geistigen Stammvater.

Ans Aufhören denkt der "tatkräftige Optimist", wie ihn der Journalist und Autor Heribert Prantl nennt, noch lange nicht. Im Gegenteil - Jürgen Mickschs Schublade quillt über mit Ideen.