In den Filmen mit Lisa Wagner als Wiesbadener Kommissarin Heller ging es nie bloß darum, Verbrecher zu verhaften; die labile Psyche der Polizistin spielte stets eine mindestens ebenso große Rolle. Die Persönlichkeit der Titelfigur und die Art und wie Weise, wie die Hauptdarstellerin diese Rolle verkörperte, war derart intensiv, dass die Reihe sogar den Abschied von Hans-Jochen Wagner als Ermittlungspartner verkraftet hat; Verhoeven war in den Filmen ohnehin eine deutlich kleinere Figur als in den Romanen von Silvia Roth. In Winnie Hellers definitiv letztem Fall wirkt der Ex-Kollege aber noch mal mit.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
„Panik“ beginnt mit einer: Gregor Riselius (Lukas Miko), einflussreicher Winzer und Weinhändler, hat zum Fest geladen. Auch Heller ist dabei. Sie verdächtigt den Winzerkönig, maßgeblich an einer besonders perfiden Form von Prostitution und Menschenhandel beteiligt zu sein: Junge Frauen werden mit Hilfe sogenannter Loverboys in die Falle gelockt, geben sich mehr oder minder freiwillig fremden Männern hin, weil der vermeintliche Geliebte Schulden hat, und werden schließlich verhökert. Während des Fests holt Heller einen minderjährigen Teenager aus einem Zimmer, in dem sich gerade ein alter Mann an dem Mädchen vergehen will. Als es vor dem Haus zum Handgemenge mit dem Loverboy kommt, erschießt ihr Kollege Lübke (Maximilian Pekrul) den jungen Mann, um Heller zu retten. Damit stirbt ihr einziger Zeuge, denn die missbrauchte Laura (Sofie Eifertinger) hat von den Hintergründen keine Ahnung. Auf einem Video des Toten entdeckt Heller Verhoevens Tochter, und nun wird die Sache persönlich: Für Nina war sie immer so etwas wie eine große Schwester.
Die zehn "Heller"-Krimis sind größtenteils in der gleichen Konstellation der kreativen Köpfe hinter der Kamera entstanden: Fast alle Drehbücher stammten von Matthias Klaschka, die Inszenierung besorgte stets Christiane Balthasar, die Bildgestaltung Hannes Hubach. Ausgerechnet der letzte Film ist jedoch kein krönender Abschluss der Reihe, selbst wenn Klaschka einen plausiblen Grund gefunden hat, warum Heller der Fall so nahegeht: Sie gibt sich die Schuld am Tod ihrer jüngeren Schwester und würde daher alles tun, um Nina (Franziska Neiding) aus den Fängen der Verbrecher zu befreien. Allerdings sind der Kommissarin zumindest offiziell die Hände gebunden. Ihr Chef ist mit Riselius befreundet, hält den Verdacht gegen den Winzer für absurd, zumal es keinerlei Beweise gibt, und suspendiert seine Mitarbeiterin, die ihm prompt einige Unverschämtheiten an den Kopf wirft. Heller ist bei Weitem nicht die einzige unleidliche TV-Kommissarin, aber wie Wagner diese soziale Inkompetenz durch eine Art ruppigen Charme ausgleicht, hat der Rolle tatsächlich ein Alleinstellungsmerkmal verschafft.
Natürlich gelingt es Heller trotzdem, Nina zu finden. Von Rettung kann allerdings noch keine Rede sein, zumindest nicht aus Sicht der 17-Jährigen, denn die Beziehung zu ihrem Freund befindet sich noch in Phase eins, weshalb sie prompt zu ihm zurückkehrt. Da Ninas Fall die Loverboy-Masche sehr anschaulich vor Augen führt, wirkt es umso ungeschickter, dass Lübke ausgerechnet die eigenen Kollegen darüber informieren muss, wie sie funktioniert. Wenig überzeugend sind auch die Szenen in Ninas Elternhaus, wo sich das Ehepaar Verhoeven (Nina Kronjäger spielt die Gattin) allerlei hässliche Dinge an den Kopf wirft. Die Einschübe sollen wohl erklären, warum auch Nina zu den potenziellen Opfern gehört, die ausschließlich aus zerrütteten Verhältnissen stammen. Dabei ist die eigene Schilderung des Mädchens ungleich plausibler: Da sie sich selbst nicht für begehrenswert hält, hatte der attraktive junge Mann mit seinen Komplimenten relativ leichtes Spiel.
Ungewohnt sind auch kleine Schwächen bei Balthasars Arbeit mit einigen Nebendarstellern. Das gilt ausdrücklich nicht für Sofie Eifertinger. Die bekannteste Rolle der jungen Schauspielerin ist die der Polizistinnentochter in der ARD-Vorabendserie "WaPo Bodensee", aber ihr Talent hat sie vor allem in dem ZDF-Liebesdrama "Zweimal zweites Leben" sowie in einem RBB-"Polizeiruf" ("Demokratie stirbt in Finsternis") bewiesen. Sehr schön gespielt sind auch kleine Momente am Rande, etwa ein fast schon romantischer Dialog zwischen Heller und einem Tankstellenmitarbeiter, der der sichtlich schockierten Kommissarin nach den Auftaktereignissen auf dem Anwesen des Winzerkönigs großzügig seine Pausenbrote überlässt. Lukas Miko wiederum ist eine ausgezeichnete Besetzung für den Part des Gegenspielers, zumal er Winzerkönig, der sich für unantastbar hält und ein entsprechendes Spiel mit Heller treibt, durchaus mit Sympathie versieht. Die impulsive Ermittlerin wird immer wieder von Panikattacken heimgesucht, was sie noch verletzlicher macht.
Klaschka hat sich offenkundig von Angela Carters Kurzgeschichte "Die Gesellschaft der Wölfe" inspirieren lassen, die auch als Vorlage zu Neil Jordans britischem Fantasy-Klassiker "Zeit der Wölfe" (1984) diente. "Panik" beginnt damit, dass Nicola Riselius (Cordelia Wege) ihrer kleinen Tochter das Märchen "Rotkäppchen" vorliest. Dabei fügt sie einen Epilog an, der nicht von den Gebrüdern Grimm, sondern von Carter stammt: "Und die Moral von der Geschicht: Mädchen, weich vom Wege nicht. Bleib’ allein und halt’ nicht an, traue keinem fremden Mann. Geh’ nicht bis zum bitteren Ende, gib dich nicht in fremde Hände. Deine Schönheit zieht sie an, und ein Wolf ist jeder Mann." Clever greift Klaschka das Rotkäppchen-Thema gegen Ende wieder auf. Dieser Dialog zwischen dem Wolf und seiner Jägerin ist das Vorspiel zu einem fesselnden Finale, das buchstäblich mit einem Knalleffekt endet.