TV-Tipp: "Für immer Sommer 90" (ARD)

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TV-Tipp: "Für immer Sommer 90" (ARD)
6.1., ARD, 20.15 Uhr
Reisen führen normalerweise in die Zukunft. Andy Brettschneider muss sich jedoch auf einen Trip in seine Vergangenheit begeben, um eine ungeheuerliche Anschuldigung aus der Welt zu räumen.

Sein Unternehmen hat einen Brief bekommen, in dem eine anonyme Verfasserin dem Investmentbanker vorwirft, er habe sie im Sommer 1990 vergewaltigt. Andy ist sich keiner Schuld bewusst, weiß aber sogleich, um welches Datum es geht: Damals hat er gemeinsam mit seiner Clique den Sieg der deutschen Nationalmannschaft bei der Fußballweltmeisterschaft in Italien gefeiert. Es ging hoch her, weshalb er sich bloß noch bruchstückhaft an die Ereignisse jener Nacht erinnern kann; aber er weiß genau, dass er noch nie in seinem Leben eine Frau zu Sex gezwungen hat. Klären kann er den Vorwurf jedoch nur, wenn er mit den Beteiligten spricht, und deshalb muss er notgedrungen zu jenen Wurzeln zurückkehren, die er am Morgen nach jener Partynacht gekappt hat.

Charly Hübner hat sich die Hauptrolle quasi selbst auf den Leib geschrieben: Das Projekt war seine Idee; das Drehbuch hat er gemeinsam mit Jan Georg Schütte und Lars Jessen, der den Film auch produziert hat, verfasst. Dass zwei derart namhafte Regisseure einen Film gemeinsam inszenieren, ist höchst ungewöhnlich, aber offenbar haben sie sich vortrefflich ergänzt. Schauspieler Schütte ("Kommissar Dupin") gilt seit seinem mit vielen Kameras gleichzeitig gefilmten heiterem Regiedebüt "Altersglühen – Speed Dating für Senioren" (2014, Grimme-Preis) als Meister der Improvisationskunst, der seine prominenten Mitwirkenden zu außerordentlichen Leistungen zu führen weiß; dieses Muster hat auch bei "Wellness für Paare" oder "Klassentreffen" ausgezeichnet funktioniert. Anders als diese an jeweils einem Wochenende entstandenen Werke ist "Für immer Sommer 90" jedoch kein Ensemble-Film, sondern ein Roadmovie, weil Andy auf dem Weg in die alte mecklenburgische Heimat nach und nach die Freunde von früher abklappert.

Die Reise beginnt bei seiner Mutter (Walfriede Schmitt), die gewissermaßen die Brücke in die Vergangenheit schlägt, und nun erzählt das Trio Hübner/Schütte/Jessen gänzlich unterschiedliche "Wende"-Geschichten. Aus Zuschauersicht nicht entscheidend, für die Authentizität aber sicher wichtig ist zudem die Tatsache, dass die Mitglieder der Clique, alle Mitte bis Ende vierzig, ausnahmslos mit ostdeutschen Schauspielerinnen und Schauspielern besetzt worden sind. Das Muster der Begegnungen ist jedes Mal ähnlich: In die Freude über das Wiedersehen mischt sich alsbald Empörung darüber, dass sich Andy einst stillschweigend aus dem Staub gemacht hat. Später hat er die Kontakte nie wieder aufgefrischt, als ob ihm die einstigen Weggefährten auf dem neuen Lebensweg als mehrfacher Millionär nicht mehr gut genug gewesen seien; und vielleicht stimmt das ja auch. Diese Mischung aus Trauer und Wut prägt vor allem die Begegnung mit Ronny (Peter Schneider), die in mehrfacher Hinsicht das Ende der Reise bildet. Mit wenigen Skizzen entwirft der Film ganze Biografien, die zum Teil in eine Sackgasse geführt haben. Deborah Kaufmann, Christina Große, Stefanie Stappenbeck und Roman Knižka brauchen nicht viel vorgegebenes Spielmaterial, um ihren jeweiligen Rollen Tiefe zu verleihen.

Fesselnd ist auch die Dramaturgie der Handlung, denn je näher Andy dem Dorf kommt, in dem er einst gelebt hat, desto mehr setzt sich in den kurzen Erinnerungseinschüben auch das Puzzle jenes vermeintlich verhängnisvollen Abends zusammen. Das macht den Film zwar noch nicht zu seinem Krimi (der er ja auch gar nicht sein will), sorgt aber für eine kontinuierliche Spannungssteigerung. Parallel dazu macht der Banker eine Metamorphose durch, schließlich erzählt "Für immer Sommer 90" auch eine Geschichte über Heimat, Identität und Freundschaft. In den letzten dreißig Jahren hat der Wendegewinner, der selbst aus Corona noch Profit schlägt, immer nur nach vorn geschaut. Die Botschaft des Films mag schlicht sein, ist aber dennoch wahr: Niemand kann vor seiner Vergangenheit davonlaufen.

Sichtbar wird Andy Wandel durch die Veränderung der Kleidung, aber auch durch kleine Irritationen wie die beschämende Hilfsbereitschaft eines zuvor beschimpften Mazedoniers, der ihm an einer Raststätte was zu Essen besorgt, weil der Banker ohne Maske nicht ins Lokal darf, oder einen Mann mit Entenkopf, der seinen Weg kreuzt. Der Film ist unter Pandemiebedingungen entstanden, was Schütte und Jessen im Gegensatz zu fast allen anderen TV-Produktionen, die 2020 entstanden sind, auch thematisieren: Die Menschen halten Abstand, die alten Freunde umarmen sich nur zögerlich, und Ronnys jüngere Schwester (Karoline Schuch) steht mit ihrem gerade erst eröffneten Strandbadbistro vor der Pleite. Dass Andy diese Frau, die einst als Teenager für ihn geschwärmt hat, selbstlos unterstützt, bewahrt ihn dennoch nicht vor dem schockierenden Ereignis, mit dem der Film endet; das einzige Lied, das in dem Film erklingt, ist "Der Traum ist aus" von Ton Steine Scherben. Bei allem Drama gibt es aber auch heitere Momente wie jenen, als Andy an einem Imbissstand vom Verkäufer regelrecht mit Vorschlägen überschüttet wird, knochentrocken und gerade deshalb sehr witzig vorgetragen von Schütte selbst.