Selbstverständlich hängen es die Reedereien nicht an die große Glocke, dass es Menschen gibt, die ihrem Leben auf hoher See ein Ende setzen. Aber die Unternehmen hätten ein noch viel größeres Problem, wenn sich rausstellte, dass nicht alle Opfer freiwillig in den Tod gegangen sind; und das ist der Ausgangspunkt der Geschichte.
Hauptfigur ist einer dieser typischen traumatisierten Fitzek-Helden: Polizeipsychologe Martin Schwartz (Lucas Gregorowicz) hat vor fünf Jahren durch ungeklärte Umstände seine Frau und sein Sohn Timmy auf der Sirius verloren. Eines Tages bekommt er einen Anruf von der Schriftstellerin Gerlinde Dobkowitz (Judy Winter). Sie lebt auf der Sirius und sammelt schon seit geraumer Zeit Material über die mysteriösen Ereignisse. Wenige Wochen zuvor sind erneut eine Mutter und ihr Kind verschwunden, aber nun ist das elfjährige Mädchen, verwahrlost und verdreckt, plötzlich wieder da; und im Arm hat es den Teddy, der einst Timmy gehörte. Schwartz hat sechs Tage Zeit, um das Rätsel zu lösen. Die Passage wird eine Reise ins Innere, an deren Ende ihn eine bittere Wahrheit erwartet.
Lucas Gregorowicz ist eine vorzügliche Besetzung für die Hauptfigur, und das nicht nur, weil ein Blick in Martins Gesicht genügt, um zu erkennen: Dieser Mann hat alle Zuversicht fahren lassen; der Anruf der Schriftstellerin weckt eher die Aussicht auf Antworten als neue Hoffnung. Miriam Reichel, Autorin der originellen RTL-Serie "Doc Meets Dorf", hat Fitzeks Vorlage konsequent entrümpelt; im Roman ist Schwartz deutlich düsterer und überschreitet diverse Grenzen. Gregorowicz begnügt sich dagegen, die Figur mit einer tiefen Melancholie zu versehen. Auf diese Weise bewahrt sich der Film-Schwartz genug Empathie, um das von Schiffsärztin Elena (Picco von Groote) versorgte Mädchen (Annallee Ranft) als Opfer und nicht bloß als Mittel zum Zweck zu sehen. In einer Parallelhandlung verrät der Film, das die Mutter (Kim Riedle) ebenfalls noch lebt: Die Frau ist in einer vertikalen Röhre eingesperrt. Ihr Peiniger stellt ihr per Laptop immer wieder die gleiche Frage: Was war das Schlimmste, das du je getan hast? Die furchtbare Tat wird sie erst ganz am Ende gestehen; sie ist auch der Schlüssel zu den anderen verschwundenen Mutter/Kind-Paaren.
Alexander Dierbach hat mit Gregorowicz bereits die RTL-Serie "Schmidt – Chaos auf Rezept" gedreht. Zu den weiteren Arbeiten des Regisseurs gehören neben den beiden "Tannbach"-Staffeln nicht zuletzt diverse "Helen Dorn"-Episoden, die zum Teil von besonderer Qualität waren (etwa "Gnadenlos"). "Passagier 23", nach "Das Joshua-Profil" (2018) die zweite Fitzek-Adaption von RTL, zeichnet sich vor allem durch eine stellenweise eindrucksvolle Montage aus, weil sich im Kopf des Protagonisten regelmäßig die Zeitebenen vermischen. Die Kombination von Rückblenden und Visionen – Schwartz sieht seinen Sohn immer wieder in den Fluren des Schiffs – ist vor allem optisch reizvoll. Schon die erste Einstellung, ein unter Wasser treibendes rotes Kleidungsstück, das wie ein bizarrer Meeresbewohner wirkt, ist ästhetisch äußerst ansprechend. Auch später werden Dierbach und sein Kameramann Ian Blumers mehrfach für große Kinoformatbilder sorgen, obwohl ein großer Teil des Films im Inneren der Sirius spielt. Darin liegt ein weiterer ein Reiz des Thrillers: Der Polizist erkundet Bereiche der schwimmenden Kleinstadt, die es im "Traumschiff" nie zu sehen gibt.
Die vorzügliche Bildgestaltung und die gute Musik (Sebastian Pille) sind das Eine, aber für den Sog, den die Macher von Filmen und Serien stets anstreben, sorgt in erster Linie die konsequente Rätselhaftigkeit der Geschichte, zumal die wenigen Hinweise, die Schwartz dem kleinen Mädchen entlocken kann, neue Fragen aufwerfen. Das ist einerseits sehr geschickt gemacht, weil das Drehbuch raffiniert mit den verschiedenen Botschaften spielt, führt andererseits aber auch regelmäßig in die Irre. Auf diese Weise bleiben diverse offene Enden übrig: Zwischendurch sieht es so aus, als habe Schwartz selbst mit dem Verschwinden von Frau und Tochter zu tun; anscheinend will ihm jemand etwas anhängen. Später "vergisst" das Drehbuch diesen Verdacht einfach; dabei wäre es natürlich interessant gewesen, den psychisch ohnehin angeschlagenen Schwartz noch stärker an sich selbst zweifeln zu lassen.
Eine ungleich erheblichere Ungereimtheit gibt es jedoch am Schluss, als Schwartz rausfindet, wer hinter dem Mysterium der verschwundenen Mutter/Kind-Fälle steckt. Die an den letzten "Tatort" aus München ("Wir kriegen euch alle") erinnernde Auflösung ist zwar nicht so banal wie in den meisten anderen Psycho-Thrillern, aber der Epilog steht im Widerspruch zum Finale, als der Polizist die gefangene Mutter retten will. Außerdem gibt es noch ein paar kleinere Ungeschicklichkeiten. Verschiedene Details, die im Roman stimmig sein mögen, sind im Film zudem überflüssig; so ist unter anderem für die Handlung völlig irrelevant, dass die Schiffsärztin mit dem Kapitän (Oliver Mommsen) verlobt ist. Unterm Strich sind die 120 Minuten zwar spannend, aber "Passagier 23" hätte ein noch besserer Film werden können.